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DTP und Heavy-Metal waren gestern, jetzt kommt Publishing 3.0!

Das Internet, XML und eine Handvoll weiterer Technologien treiben eine neue Publishing-Revolution voran, welche eine neue Grösse ins Zentrum des Geschehens rückt: den Kunden!

Martin Spaar Vor 25 Jahren läutete das Desktop-Publishing eine ganz neue Art des Publizierens ein, bei der der Personal Computer oder genauer der Macintosh im Zentrum stand. Apples Betriebssystem mit grafischer Oberfläche, Adobes Postscript und die Software Aldus PageMaker waren die technologischen Innovationen, welche diese neue Art des Publizierens erst möglich machten und vorantrieben. Unterdessen sind die Versprechen hinter dem Schlagwort Desktop-Publishing so selbstverständlich, dass niemand mehr davon spricht. Die Revolution ist gelebter Alltag geworden und die darauf basierenden Workflows sind bei den Aufraggebern und den Dienstleistern der grafischen Industrie bestens eingespielt.

Zweite Publishing-Revolution durch das Web und XML

Nun zeichnet sich in der Publishing-Branche eine neue Revolution ab. Und wieder ist es die Kombination von einigen technologischen Innovationen, welche die Entwicklung vorantreibt. Diese Triebfedern sind PDF/X als ein verbindlicher Standard für digitale Druckvorlagen, XML als Standard für Schnittstellen zwischen einzelnen Publishing-Prozessen und -Systemen und dann das Internet. Dieses prägt das Publishing gleich in doppelter Hinsicht. Einerseits als Medium respektive Kanal für mediale Inhalte (Web-Publishing), andererseits als Prozessoptimierungs-plattform für die Drucksachenerstellung (Web-to-Print). Zu diesen softwarelastigen Innovationen kommt noch der Digitaldruck mit seinen Möglichkeiten im Bereich Print-on-Demand und variablem Druck.

Publishing 3.0 als neues Schlagwort

Da diese Revolution hin zu einer neuen Art des Publishing eher leise und schleichend voranschreitet, wurde sie vielerorts noch gar nicht also solche wahrgenommen und es hat sich noch kein allgemein verbindlicher Name dafür herauskristallisiert. Wir vom Publisher schlagen den Begriff Publishing 3.0 vor, durchaus im Sinne eines Schlagwortes, das Aufmerksamkeit erheischt und aufrütteln soll (siehe Kasten). Denn wir sind der Meinung, dass der Branche ein tief greifender Wandel bevorsteht. Publishing 3.0 wird schon in naher Zukunft vieles auf den Kopf stellen, vorab die Rolle der Dienstleister der grafischen Industrie!

Beim klassischen Publishing stand die Druckerei im Zentrum. In dem daraus gewachsenen Verständnis ist das Drucken der eigentliche Prozess. Alles, was davor passiert, wird unter dem Begriff Vorstufe zusammengefasst. In diesem Begriff schwingt durchaus etwas Abwertendes mit: Hier geht es ja nur darum, den Druck zu bedienen. Und vor der Vorstufe – ganz weit weg – gibt es noch den Kunden. Der soll die Kreise der Jünger Gutenbergs möglichst wenig stören und brav der Vorstufe zudienen, die dann wieder den Druck bedient.

Dieses in den alten Workflows verwurzelte Selbstverständnis prägt noch immer den Umgang mit dem Kunden und macht die Druckereilandschaft über weite Strecken zur eigentlichen Dienstleistungswüste. Sehr aufschlussreich und empfehlenswert ist in dieser Hinsicht die im November erschienene Zukunftsstudie von Viscom (siehe Kasten), in der die diesbezüglichen Missstände mittels Fallstudien gnadenlos aufgedeckt beim Namen genannt werden.

Der Kunde rückt ins Zentrum

Die Zukunft verlangt ganz anderes: Beim Publishing 3.0 steht der Kunde im Zentrum eines hoch automatisierten Publishing-Prozesses. Die Datenbanken seines ERP-Systems sind inhaltliche Quelle für die Produktion von Produkte-Flyern und Katalogen, seine CRM-Datenbank steuert auf einzelne Zielgruppen angepasste Angebote von individualiserten Werbedrucksachen. Bei Jahresberichten und ähnlichen Corporate-Publishing-Projekten hat der Kunde über ein Redaktionssystem bis zuletzt die Hoheit über alle Inhalte. Das von ihm gepflegte Asset-Management speist die Bilder in alle Publishing-Prozesse ein und sein PIM die Produktbeschreibungen in passender Textlänge. Sein Brand Management System sorgt für die strikte Einhaltung der CI-Richtlinien und bietet weitreichende Web-to-Print-Funktionalität.

Das Drucken als «Nachstufe» an den Rand gedrängt

Diese vernetzten Prozesse bedienen alle Medien vom Flyer bis zum Handy, vor allem aber das Internet. Der Druck muss sich somit gegen die vielseitigen digitalen Medien behaupten und wird immer mehr an den Rand gedrängt, wird von seiner Bedeutung her zur «Nachstufe» der IT-getriebenen Publishing-3.0-Prozesse degradiert. Seine Aufgabe besteht darin, den Output der Publishing-3.0-Systeme, also Druckdaten gemäss PDF/X-Vorgaben, standardisiert aufs Papier zu bringen – und das zu möglichst tiefen Preisen!

Publishing 3.0 ist so wie oben beschrieben noch kaum irgendwo mit letzter Konsequenz realisiert. Am weitesten sind hier die multinationalen Konzerne, die mit ihrem grossen Publishing-Volumen die hohen Anfangsinvestitionen für diese komplexen Systeme am ehesten amortisieren können. Während heute die Unternehmen ein solches Publishing-3.0-System aus vielen Einzelmodulen verschiedener Hersteller zusammensetzen müssen, werden in Zukunft immer mehr Lösungen auf den Markt kommen, die alles aus einer Hand bieten. So beinhaltet zum Beispiel Apogee Media von Agfa schon heute ein Redaktionssystem mit integriertem Media Asset Management und Web-to-Print-Funktionalität. Solche Lösungen für das integrierte Publishing werden dereinst auch für KMUs erschwinglich sein und wohl zu deren selbstverständlicher IT-Infrastruktur gehören wie heute ERP- oder Warenwirtschaftssysteme.

Thesen zur Publishing-3.0-Revolution ...

Der Wandel vom klassischen Publizieren zum Publishing 3.0 wirft eine Vielzahl von Fragen auf, denen wir in den nächsten Ausgaben des Publisher nachgehen möchten. Wir werden dabei auch verschiedene Exponenten aus der Publishing-Branche zu Wort kommen lassen. Um die Diskussion anzuregen, wollen wir hier einige bewusst provokativ zugespitzte Thesen in den Raum stellen:

  • Publishing 3.0 wird einen grossen Automatisierungsschub mit sich bringen. Damit fällt ein grosser Teil der heute durch die grafische Industrie erbrachten Wertschöpfung weg.
  • Publishing 3.0 wird hauptsächlich in den Publishing-Abteilungen der Unternehmen stattfinden. Die klassische Vorstufe der Druckereien wird an den Rand gedrängt und kaum mehr Wertschöpfung erzielen können.
  • Es wird einen massiven Aderlass von IT-gewandten Publishing-Profis geben, welche die grafische Industrie verlassen und auf die Seite der Auftraggeber wechseln. Die fähigsten Fachkräfte werden zuerst gehen! Und die verbleibenden werden zu einem guten Teil wegrationalisiert!
  • Drucksachen-Webshops werden das Preisgefüge massiv ins Rutschen bringen. Eine Drucksache kann nur noch dort zu konkurrenzfähigen Preisen produziert werden, wo sie perfekt auf die Druckmaschine passt. Das heisst in vielen Fällen als Teil einer Sammelform auf einer grossformatigen Maschine!
  • Kleine Drucksachendienstleister werden daher im Interesse ihrer Kunden gezwungen sein, Druckjobs, die nicht perfekt auf ihren Maschinenpark passen, als Broker weiterzuvermitteln, statt selbst zu drucken. Wer aus dieser Not eine Tugend macht, hat gute Erfolgschancen. Der Kunde wird diese Dienstleistung und die fachmännische Beratung schätzen und eine angemessene Marge auf die Handelsware «Drucksache» verschmerzen!
  • ... und offene Fragen dazu

    Und zu den Punkten, bei denen wir selbst noch kein klares Bild vor Augen haben, wollen wir hier noch einige Fragen zur Diskussion in den Raum stellen:

  • In welchem Bereich gibt es für die Dienstleister der grafischen Industrie am ehesten die Chance, Publishing-3.0-Dienstleistungen für ihre Kunden zu erbringen und sich damit neue Tätigkeitsfelder zu sichern?
  • Welche Anbieter werden mit ihren Publishing-3.0-Lösungen am Markt erfolgreich sein? Werden diese aus dem Kreis der klassischen Anbieter der grafischen Industrie kommen (Agfa, Heidelberg, Kodak, Fujifilm etc.), aus den Reihen der Softwareanbieter (Adobe, Quark) oder schaffen einzelne Start-up-Firmen den grossen Durchbruch, welche dieses Jahr ihre Lösungen am Drupa-Innovation-Park zeigten? Oder wird Publishing 3.0 ein Teil der ERP-Systeme, indem diese in der Warenwirtschaft auch gleich die Bilder und Texte zu den Produkten mitverwalten und per XML die verschiedenen Publishing-Kanäle bedienen?
  • Woher kommen die Leute, welche über das bei Publishing 3.0 gefragte Know-how verfügen? Werden es eher heutige IT-Fachleute sein, die sich das Publishing-Know-how aneignen, oder Publisher, welche zusätzliches IT-Know-how mitbringen?
  • Wird die grafische Industrie in der Lage sein, Fachleute für die Publishing-3.0-Workflows auszubilden? Und wenn ja, wird sie dazu auch bereit sein, wenn diese später zum Grossteil in die Publishing-Abteilungen der Kunden abwandern?
  • In der neu geschaffenen Rubrik «Publishing 3.0» werden wir in den nächsten Ausgaben unserer Zeitschrift verschiedene Experten aus der Publishing-Szene zu diesen Fragen Stellung nehmen lassen und zukunftsweisende Lösungen vorstellen, welche zeigen, dass Publishing 3.0 schon da und dort Realität ist.

    Zukunftsstudie des Viscom

    Nach 1999 und 2003 legt der Viscom nun seine dritte Zukunftsstudie vor. Basis für die Überlegungen zur Zukunft der grafischen Industrie bilden zum einen Interviews mit Führungskräften von Druck-, Vorstufen- und Weiterverarbeitungsbetrieben, mit Kunden und Lieferanten sowie Fachexperten. Zum anderen wurde eine webbasierte Umfrage unter mehr als 100 KMU-Betrieben der grafischen Branche durchgeführt. Die Studie ist zum Preis von

    Fr. 160.– (Fr. 20.– für Viscom-Mitglieder) erhältlich über den Shop unter www.viscom.ch.

    Was ist Publishing 3.0?

    Der Begriff Publishing 3.0 soll in Analogie zu Web 3.0 ausdrücken, dass eine neue Ära des Publishing anbricht. Publishing 1.0 waren die Satz- und EBV-Systeme der 70er-Jahre, Publishing 2.0 war das Desktop-Publishing, welches uns leistungsfähige Technologien und Werkzeuge wie Photoshop, Illustrator, QuarkXpress, InDesign, ICC-Farbmanagement, PDF-Workflows etc. brachte. Mit Publishing 3.0 kommen jetzt neue Publishing-Lösungen, welche einen hohen Grad an Automatisierung und eine massive Effizienzsteigerung erlauben werden. Wir sehen Publishing 3.0 zur Hauptsache durch folgende Eigenschaften charakterisiert:

    • Prozessorientiert: Die heutigen Workflows funktionieren in der Regel nach dem Prinzip Eingabe – Verarbeitung – Ausgabe als Einbahnstrasse. Kommt es zu inhaltlichen Änderungen, muss der ganze Workflow nochmals von vorn nach hinten durchlaufen werden. Publishing 3.0 basiert dagegen auf Prozessen, welche interaktiv ineinander verzahnt sind und die dynamische Aktualisierung von Inhalten an jeder Stelle des Prozesses ermöglichen.
    • XML-basiert: Bei der oben genannten Interaktion zwischen den einzelnen Prozessen spielt XML als Basis für standardisierte Schnittstellen eine Schlüsselrolle.
    • Datenbankgetrieben: Inhalte (Assets) werden in Datenbanken verwaltet und von dort dynamisch in die Publishing-Prozesse eingespeist.
    • Internetgestützt: Die Möglichkeiten, das Internet als Prozessoptimierungsplattform für Publishing-Prozesse zu nutzen, werden voll ausgeschöpft.
    • Kundenzentriert: Beim Publishing 3.0 rückt der Kunde ins Zentrum des Geschehens. Seine Datenbanken speisen die Publishing-Lösungen mit Inhalten und über webbasierte Benutzerschnittstellen ist er fest in die einzelnen Prozesse eingebunden.

    Publishing-3.0-Lösungen und -Schlagwörter

    Lösungen, welche ganz oder teilweise die oben genannten Kriterien erfüllen, sind schon in grosser Zahl auf dem Markt. Dabei haben sich viele neue Begriffe und Schlagwörter herausgebildet. Hier ein Überblick ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

    • Database-Publishing
    • Web-Content-Management-Systeme (CMS) und Enterprise-Content-Mana­gement-Systeme (ECMS); datenbankgestütztes Publizieren (meist im Internet) mit anwenderfreundlichem Back-End zum Einspeisen und Aktualisieren der Inhalte
    • Crossmedia-Publishing und Multi-Channel-Publishing
    • Variabler Digitaldruck und Transpromo zum Erstellen individualiserter Drucksachen auf Basis der Daten aus CRM-Systemen (Customer Relation Management)
    • Printing on Demand mit Digitaldruck, Kurzfarbwerk- oder DI-Offsetdruck
    • Management-Informations-Systeme (MIS) mit JDF-Unterstützung für interne Workflow-Automatiserung und mit webbasierter Kundenanbindung zur Effizienzsteigerung bei externen Prozessen wie Revisionen und Gut-zum-Druck
    • Web-to-Print und Drucksachen-Webshops
    • Drucksachen-eProcurement, IT- und Web-gestützte Drucksachenbeschaffung
    • Online-Services wie Online-Preflight oder Remote-Proof
    • PIM-Systeme (Product Information Management) zum zentralen Einspeisen von produktbezogenen Inhalten in die Publishing-Prozesse
    • Media Asset Management zum Verwalten und Verteilen der Publishing-relevanten «Assets» wie Bilder, Grafiken, Videos etc.
    • Team-Publishing mit Redaktionssystemen