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Kritzeln, skizzieren, zeichnen

iPad und Zeichenstift gehen Hand in Hand. Dabei stehen ein effizienter Workflow und der gezielte Einsatz im Vordergrund. Die zeichnerische Qualität ist am Anfang sekundär. Es gilt: üben, üben, üben …

Guido Köhler Immer häufiger arbeiten Illustratoren nicht mehr allein im stillen Kämmerchen, sondern in Teams zusammen mit Gestalterinnen oder sogar mit anderen Illustratoren. Mobile Endgeräte bieten hier einen Mehrwert, den es allerdings erst zu erschliessen gilt.

Überfordert man sich nicht, sondern packt am Anfang Aufgaben an, die man zeichnerisch bewältigen kann – wie die Korrektur einer analogen Handskizze –, erzielt man relativ schnell Erfolge. Das Üben und Ausprobieren dauert zwar gleich lange wie bei jedem anderen Lernprozess, kann aber gut in die tägliche gestalterische Arbeit einfliessen.

Welchen Stift oder welche App man wählt, ist zu Beginn sekundär. Wichtiger ist es, das iPad zielgerichtet und regelmässig einzusetzen, auch wenn die Resultate am Anfang nicht überzeugen. Um Frust zu vermeiden, muss man vor allem die negativen technischen Eigenschaften des Geräts beachten.

Darauf muss man achten

Mobile Endgeräte sind Tausendsassas: Sie vereinen Kamera, Scanner, Kommunikation und Zeichnungswerkzeug in einem. Das heisst, sie spielen ihre Stärke beim mobilen Arbeiten aus, und man braucht nur ein einziges Gerät. Verbunden mit einer externen Tastatur, erlauben sie sogar Texteingabe, und die kurze Akkulaufzeit lässt sich mit USB-Zusatzakkus und Solarchargern lösen. Zudem kann man das iPad gut mit analogen Techniken kombinieren.

Komplexer wird es bei technischen Einschränkungen. Die wichtigsten sind:

  1. Starker Sonnenschein erhöht den Batterieverbrauch oder verunmöglicht das Zeichnen.
  2. Palm Rejection ist das ungewollte Reagieren des Tablets auf den Handballen. Es lässt sich zwar mit entsprechenden Apps und Stiften reduzieren, aber (noch) nicht vollständig beheben. Wichtig ist es, eine eigene Stifthaltetechnik zu entwickeln, um zu verhindern, dass ungewollt Befehle ausgelöst oder Striche gezogen werden. Ohne diese Technik werden Zeichnen und Schreiben zur Qual.
  3. Schwitzen an den Händen beim Zeichnen fühlt sich auf dem Glas unangenehm an und hat einen negativen Einfluss auf die Palm Rejection.
  4. Die geringe Grösse der Zeich­nungsfläche (6 bis 8 Mio. Pixel) macht Grossformate im Printbereich (Roll-up, Poster usw.) oder Anwendungen für Grossbildschirme unmöglich.
  5. Da Apps kleine Datenbanken sind, gibt es keine einheitliche Datenverwaltung. Jede App speichert nach anderen Prinzipien. Das Anlegen von Varianten ist eingeschränkt, da Projektordner limitiert sind. Die Dropbox ist dabei mehr Notlösung als echte Dateiverwaltung.
  6. Durch das Fehlen von Kurzbefehlen und des Mausklicks ist das Zeichnen zu Beginn recht langsam und einige Abläufe ungewohnt komplex, beispielsweise das Vergrössern von Bildbereichen.
  7. Schnelles Veralten der Hardware.
  8. Das iPad und der Stift sind bruch­empfindlich.

Welchen Stift wählen?

Bei der Wahl eines Stifts sind Marke und Preis irrelevant. Ich arbeite manchmal mit einem Werbegeschenk mit Gummispitze. Zum Einsteigen kann man einen Stift wählen, der nicht druckempfindlich ist (Adonit Jot Mini für 20 US-Dollar). Leider werden einige gute Stifte nicht in Europa angeboten und müssen in den USA gekauft werden.

Bei Dataquest kann man eine ganze Reihe von Stiften ausprobieren, was unbedingt zu empfehlen ist. Wichtig bei der Wahl ist die Art, wie man illustriert und ob man schreiben will, da man dann Punkte (i, ö, !) setzen muss. Wer Kalligrafie machen oder malen möchte, braucht einen druckempfindlichen Stift. Die App muss zudem Palm Rejection unterstützen. Ein spezielles Lineal braucht es nicht, gute Apps haben einen Linien-Modus, womit oft auch die wichtigsten Polygone gezeichnet werden können.

Was ist ein4e gute Zeichenungsapp?

Der Markt ist – seit ich vor drei Jahren begonnen habe – sehr unübersichtlich geworden, weshalb Rezensionen veraltet sind, bevor sie publiziert werden.Wenn man sich fragt, was ein Zeichner oder eine Illustratorin braucht, kann man sich die entsprechende App aussuchen. Hier die wichtigsten Punkte (siehe Beispiele von ArtStudio und Tayasui Sketches):

  • Technische Unterstützung

– Bluetooth-Unterstüzung für möglichst viele Produkte und Palm Rejection,

– Offlinehilfe oder Handbuch als PDF zur Unterstützung ist unentbehrlich,

– Intuitive Benutzerführung und einfache Menüs ohne Verschachtelungen.

  • Zeichenfläche und Ebenen

– Zoom- und drehbare Zeichenfläche, damit nicht das Tablet gedreht werden muss (wenn es am Strom hängt),

– Variable und möglichst grosse Zeichenflächen,

– Mehrere Hintergrund- oder Foto­ebenen, hohe Zahl von Zusatzebenen.

  • Werkzeuge und Ansichten

– Gestengesteuerte Transformations- und Auswahlwerkzeuge,

– Selektives Ausblenden der Bedien­elemente (variabler Isolationsmodus),

– Linien-Modus und Polygone,

– Farbpicker- oder -rad, Pipette und einfache Farbverwaltung,

– Genügende Anzahl an guten Pinselspitzen und Zeichenwerkzeugen.

  • Dateiverwaltung

– Projektordner, Dateiablage,

– Import und Export von und ins PSD-Format sowie weitere Dateiformate,

– Autosave-Funktion.

Die Textverarbeitung ist hier nicht aufgeführt. Es gibt kaum eine Zeichnungsapp, die das gut kann.

Die Kosten für solche Apps belaufen sich auf 5 bis 15 US-Dollar. Teuer kann es bei den In-App-Käufen für zusätzliche Pinselspitzen oder Ähnliches und beim Erwerb der Pro-Version werden.

Welches Konzept wählen?

Es gibt Apps mit einem Menübalken und häufiger solche, die nur noch Icons aufweisen. Der Umgang mit letzteren erschliesst sich nicht immer (z.B. Tayasui Sketches oder AutoDesk Apps). Darum sind Offlinehilfe, Tutorials und eine gute Einführung wichtig. Bei AutoDesk SketchBook Pro etwa verstecken sich die Pinseleinstellungen in einem 180° rotierenden Pop-up-Menü. Ohne Anleitung wird diese Funktion nur durch Zufall entdeckt.

Neben der Benutzeroberfläche ist die Dateiorganisation wichtig. Die meisten neuen Apps arbeiten mit Projektordnern, schön gelöst in Tayasui Sketches. Unverständlich ist bei vielen Apps die Limitierung von nur sechs Projekten pro Ordner – bei Tayasui oder Adobe. Da helfen auch Clouddienste nicht weiter   …

Analoge und digitale Skills

In unseren Kursen beginnen wir analog und setzen das iPad als Scanner ein – beispielsweise mit Tiny- oder CamScanner. Zeichnungen müssen damit nicht orthogonal aufgenommen wer­den, denn sie sind im Nu entzerrt und exportiert. Im Anschluss werden die Skizzen am iPad überarbeitet. Damit befreit man sich vom Leistungsdruck, eine «gute» Zeichnung machen zu müssen, und kann sich an die Funktionen und die Arbeitsweise von App und Stift herantasten.

Interessant ist diese Arbeitsweise auch für Besprechungen: Handnotizen werden aufgenommen und später auf dem iPad überarbeitet. Aber Achtung: Von Hand schreiben ist die anspruchsvollste Tätigkeit mit einer Zeichnungsapp. Es muss alles stimmen: Geschwindigkeit, Druck, Stifthaltung und Werkzeug. Gegebenenfalls muss man sich ein Schriftbild für das iPad angewöhnen.

Raster helfen

Wir sind es gewohnt, Bilder als Ganzeszu erfassen. Beim digitalen Arbeiten beeinflussen jedoch Zoomstufe und Auflösung diese Sichtweise. Die Information, wo und wie meine Zeichnung in der Zeichenfläche steht, ist beim iPad wichtig, da in einigen Apps die Arbeitsfläche nicht mehr geändert werden kann oder bereits die grösstmögliche Fläche gewählt ist.

Um das Orientierungsproblem zu mindern, arbeiten wir oft mit Rastern (z. B. 30–60°-Isometrie), die wir in Illustrator erstellen und in der App auf die Hintergrund- oder Fotoebene laden. Die Raster erleichtern es, gerade Linien von Hand zu zeichnen und sich auf der Zeichenfläche zurechtzufinden.

Zeichnen mit Vektoren

Ohne Erfahrung mit Illustrator oder InkScape ist der Einstieg schwierig. Was hingegen gut funktioniert, ist das Anpassen bestehender Zeichnungen. Das Austauschformat ist SVG, AI kann gelesen aber nicht exportiert werden. Die beste App für Illustrator-Anwender kommt nicht von Adobe, sondern von Taptrix, ist open-source und heisst Inkpad (Arbeitsfläche: 16 Mio. Pixel!). iDesign von Touch­Aware eignet sich für InkScape-User.

Kollaboratives Illustrieren

Cartoons sind für mich als wissen-schaftlichenr Zeichner keine Kernkompetenz. Für zwei Abstimmungsplakate haben wir dem Auftraggeber WWF jedoch genau das vorgeschlagen. Da der Zeichner, mit dem wir zusammenarbeiten, in Norwegen in den Ferien weilte und nur ein iPad dabeihatte, waren wir gezwungen, mit dem Tablet zu arbeiten.

Der Sudel wurde von mir im Zug von Hand gezeichnet, mit dem iPad gescannt und in ArtStudio eingefärbt. Diese Vorlage ging an den Cartoonisten, der eine erste Vorzeichnung machte. Auf dieser wurden Korrekturen und Bemerkungen angebracht und der Auftraggeber fügte Kommentare in Acrobat ein. (In Good­Reader sind die übrigens lesbar.)

Wir haben die fertige Vorzeichnung in Photoshop geöffnet, auf F4 hochgerechnet und mit dem Wacom-Board reingezeichnet. Die Daten werden über die Dropbox im PDF- und im PSD-Format ausgetauscht, da sonst die Ebenen verloren gehen würden. Das bedingt Apps, die sowohl den PSD-Export als auch den -Import erlauben. Drei Personen haben zeitweise gleichzeitig am Cartoon gearbeitet.

Mit einer hochstehenden und emotionalen Illustration konnte der Pitch gewonnen werden. Die zeichnerische Qualität der ersten auf dem iPad entstandenen Sudel und Skizzen war dabei eher unwichtig.

Empfindlichkeit, Palm Rejection, Zusatztasten

Sensitive Stifte müssen über BlueTooth mit dem iPad verbunden werden. Palm Rejection steht nur für Stifte mit BlueTooth-Verbindung und App-Unterstützung zur Verfügung. Gleiches gilt für allfällige Zusatztasten. Sie dienen dazu, Befehle oder die Pipette aufzurufen, was sehr praktisch sein kann. Ich arbeite deshalb vorzugsweise mit dem Adonit Jot Touch.

Der Autor

Guido Köhler ist diplomierter wissenschaftlicher Illustrator und Inhaber des Ateliers Guido Köhler & Co. in Binningen. Ausserdem ist er Dozent an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK), wo er digitale Illust­ration unterrichtet. Zurzeit betreut er an der Hochschule Neuchâtel ein ­Info­grafikprojekt zur Dokumentation von Messgeräten, die konserviert werden müssen.