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Agil denken und handeln �f�r besseres Publishing

Crossmediales und digitales Publishing stellt gewohnte Prozesse und Organisations­formen vor grosse Schwierigkeiten. Aber es gibt Alternativen, agile Vorgehensweisen zeigen den Weg in zeitgemässe Formen der Medienproduktion.

Georg Obermayr In den letzten Jahren sind laufend neue Medien entstanden. Trotzdem haben sich die Vorgehensweisen in der Medienproduktion nicht oder nur wenig an diese Veränderungen angepasst. In den meisten Fällen wurden die aus der Print-Produktion bekannten Organisationsformen, Kreationsmöglichkeiten und Technologien einfach auf die neuen digitalen Medien übertragen. Dies kann zwar funktionieren, führt aber angesichts des sich immer schneller drehenden Marktes deutlich seltener zu guten Publishing-Ergebnissen.

In dieser Artikelserie stellen wir die notwendigen Veränderungsprozesse in der Medienproduktion im Zeitalter von Tablet, Social Media und Web sowie ihrer crossmedialen Verschränkung vor. In dieser ersten Folge zeigen wir, wie sich die Rollenbilder und Skill-Profile im Publishing verändern, was das Problem an unseren jetzigen Prozessen ist und wie ein neuer, agiler Publishing-Prozess aussehen kann.

Die hier dargestellten Konzepte werden im Buch «Agiles Publishing» genauer aufgezeigt. Das Buch (Details siehe Kasten) können Sie über den Publisher-Shop vorbestellen. Es er­scheint voraussichtlich im September.

Silodenken

Im bisherigen Publishing waren in Agenturen und auch in Verlagen klare Rollenverständnisse definiert. Dies sind die klassischen Rollenbilder, die unser (Zusammen-)Arbeiten nach wie vor prägen: Grafiker und Designer, Polygrafen, Texter und Redaktoren, Programmierer und Projektmanager.

Obwohl klar ist, dass es für gute Ergebnisse eine fruchtbare Kooperation zwischen den Disziplinen geben muss, sieht die Realität oft anders aus: Fast jedes Teammitglied und jedes fachliche Team steckt tief in seinem Silo. Der kreative und zielgerichtete oder gar reflektierte Austausch neuer Techniken und Erlebnisse zwischen den Aufgabenfeldern findet selten bis nie statt.

Das Problem ist, das bei einer solchen Lagerbildung keine fesselnden digitalen Produktionen entstehen können. Vereint doch gutes digitales und crossmediales Publishing zwei auf den ersten Blick gegenläufige Trends:

    Es braucht Fachexperten, um einen definierten Arbeitsstrang, etwa Videos, Animationen oder Seitenlayouts, ziel­orientiert und effektiv abzuarbeiten.
    Es braucht aber auch Generalisten, die das Zusammenwirken von Bild, Text, Ton, Film und Interaktion erarbeiten können.

Neue Publishing-Rollen

In diesem Spannungsfeld ist kein Platz mehr für das bisherige Silodenken. Alle am Prozess Beteiligten müssen miteinander arbeiten und laufend über den eigenen Tellerrand blicken. Dazu braucht es im Publishing neue Berufsbilder und eine Redefinition der bisherigen Rollen:

  • 360°-Medienproduktioner: Der neue Typ Polygraf beherrscht die ­Klaviatur der modernen Medienproduktion – von Layouts über Bilder bis hin zu Websites, Druck-PDF, Animationen und Videos.
  • Programmierende Designer: Grafiker müssen in der Lage sein, digitale Designs «erfühlen» zu können. Statische Print-Designs sind dafür nicht mehr ausreichend. Nein, sie müssen (zumindest etwas) programmieren lernen, um direkt im Zielmedium in die Gestaltung eingreifen zu können.
  • Designende Programmierer: Umgekehrt müssen auch Programmierer Designentscheidungen treffen können. Anders lassen sich die heutigen komplexen und umfangreichen Interfaces nicht mehr entwickeln.
  • Storyteller (filmende Redaktoren): Ein Storyteller erzählt Geschichten. Klassische Redaktoren denken da meistens einzig an Texte. Für digitales Publishing reicht das aber nicht: Infografiken, Videos, Interaktionen und vieles mehr müssen im Sinne der Geschichte zusammen inszeniert werden.
  • User Experience Designer: Das Ziel sind immer stimmige Benutzererlebnisse. Dazu plant der UX-Designer Funktionen und Begeisterungsmerkmale in die Publishing-Produkte, kreiert Informationsarchitekturen und Interaktionsdesigns und führt Benutzertests durch. Ein Rollenbild, das wir im Publishing bisher viel zu selten sehen!
  • Content-Stratege: und noch eine neue Rolle: Ein Content-Stratege sorgt für die Rezeption der Medienmöglichkeiten und kümmert sich um durchgängige Erzählformen. Er ist eine Art Kurator, der dafür sorgt, dass mediengerecht und im Sinne der zu kommunizierenden Geschichte gearbeitet wird.

Probleme im Prozess

Mit solchen veränderten und neuen Skill-Profilen im Publishing ist schon viel erreicht. Natürlich müssen diese Leute für die Teams gefunden oder entsprechend weitergebildet werden. Hier liegt eine grosse Herausforderung in der praktischen Umsetzung, die aber gemeistert werden kann.

Die nächsten Schritte passieren auf organisatorischer Ebene: So können beispielsweise bisher getrennte Print- und Web-Abteilungen unter einem Dach zusammengeführt werden. Print- und Non-Print-Personen profitieren enorm voneinander. Zusammen können sie die Herausforderungen des Digital Publishing besser meistern.

Das darf aber nicht das Ende der Entwicklung sein! Das eigentliche Problem liegt nämlich in unserem bisherigen Publishing-Prozess – dem so genannten Wasserfall: Hier wird stur ein Schritt nach dem anderen abgearbeitet. Die Phasen sind klar voneinander abgegrenzt und werden isoliert von Leuten in ihren Silos aus Teams, Rollen und Berufsbezeichnungen durchgeführt. Solange der vorherige Arbeitsgang nicht abgeschlossen und abgenommen wurde, warten die anderen Teams. Nach jeder Phase wird ein Zwischenstand an den Nächsten im Prozess übergeben.

Passt diese Vorgehensweise zum Ende des Silodenkens und zu den neuen Skills im Publishing? Nein: Wasserfallprozesse sind zwar in der Print-Produktion gelernt, sie wurden aber leider 1:1 auf digitale Medien wie Websites oder Tablet-Magazine übertragen. Es wird also weiterhin zuerst konzipiert, dann designed und schliesslich programmiert und mit Inhalten versehen. Aus dieser Vorgehensweise resultieren gewaltige Probleme:

  • Der vorgelagerte Prozessschritt muss für alle nachgelagerten mitdenken, um Probleme zu vermeiden.
  • Je später im Prozess ein Fehler etwa im Konzept entdeckt wird, desto aufwändiger wird es, ihn zu beheben.
  • Anforderungen werden selten aus der Sicht des Nutzers formuliert, sondern aus der eigenen Perspektive.
  • Kommunikation zwischen den Bereichen findet oft nur an den Schnittstellen und Übergabepunkten statt.
  • Der vielleicht grösste Nachteil im Wasserfall ist aber, dass man zu langsam ist. Bis etwas veröffentlicht ist, ist der Markt schon wieder einen Schritt weiter. Man meint zwar, dass man fertig ist – doch ist man es nie.

Es braucht also eine andere Prozessmethodik für digitale Medien. Eine, die so funktioniert wie die Medien selbst und Veränderungen antizipiert. Genau das leisten agile Prozesse. Doch wie funktioniert das?

Agil macht den Unterschied

In agilen Prozessen gibt es kein Lastenheft mehr. Stattdessen wird eine Vision für das Publishing-Produkt formuliert. Die Vision beschreibt knapp verständlich aus Nutzersicht, wo die Vorteile des Produkts liegen und wohin die Reise geht.

Es gibt auch keine unverständlichen Anforderungsprofile: Stattdessen werden User Stories geschrieben – einfache Sätze nach folgendem Muster: «Als …[wer] möchte ich … [was], weil … [warum].» An den User Stories arbeiten Techniker und Nichttechniker zusammen. Es gibt keine Hürden. Die Bedürfnisse des Nutzers stehen immer im Zentrum. Zusammen mit einer Zeiteinschätzung und einer Priorität wandern sie in einen gemeinsamen Anforderungsspeicher – den «Backlog». Dabei kann es sich beispielsweise um eine einfache Pinnwand handeln.

Dann beginnt die Arbeit: Es wird eine feste Zeitbox definiert, etwa eine Woche. Vorbei die Zeiten endlos verspäteter Meilensteine. In dieser Zeitbox, dem «Sprint», werden User Stories aus dem Backlog abgearbeitet. Am Ende des Sprints steht immer ein fertiges Produkt, das getestet und gegebenenfalls sogar veröffentlicht werden kann. Danach startet ein neuer Sprint mit den nächsten User Stories. Jeder Sprint führt näher zur Vision. Es ist aber auch klar: Man wird nie fertig. Die Anforderungen und die User Stories werden laufend erweitert und angepasst.

Innerhalb des Sprints wird komplett anders gearbeitet als bisher. Denn alle Fachdisziplinen arbeiten gleichzeitig – egal ob Programmierer/Umsetzer, Designer oder Content-Arbeiter. Und: Alle arbeiten zusammen an einer User Story. So entsteht der intensivste Austausch zwischen den Disziplinen, eine dichte Verzahnung, bei der jeder etwas zur Lösung des Problems beitragen kann. Kommunikation pur! Erst durch dieses enge gemeinsame Arbeiten an Lösungen im Sinne des Nutzers wird das Silodenken vollständig aufgelöst. So können beeindruckende Publishing-Erlebnisse entstehen.

Sie glauben nicht, dass das funktionieren kann? Andere Branchen arbeiten schon lange erfolgreich so – wir im Publishing aber nicht. Dabei lassen sich die Methoden so gut übertragen! Im Buch «Agiles Publishing» steigen wir tiefer in die Konzepte ein. Und wir zeigen, wie Websites, Tablet-Magazine und sogar Printprodukte agil umgesetzt werden können.

Die Artikelserie wird in der nächsten Ausgabe des Publisher mit den Themen Storytelling, User Experience und Interfaces fortgesetzt.

Der Autor

Georg Obermayr realisiert als technischer Leiter einer Werbeagentur medienübergreifende Kommunikation in Print, Web und Digital. Er ist Autor diverser Publikationen, hält regelmässig Vorträge und ist Mitglied der Arbeitsgruppe Technik bei PDFX-ready.

www.georgobermayr.de

Das Buch «Agiles Publishing»

Erfolgreiche Produktionen von digitalen und crossmedialen Publishing-Erlebnissen werden heute agil erstellt. Agil sein, also schnell und flüssig handeln können, dies ist das neue Fundament für Publishing und Marketing. Agil sein ist eine andere Art zu denken und zu agieren. Das Buch ebnet für den Leser den Weg von neuen organisatorischen Ideen zur konkreten kreativen und technischen Ausgestaltung. «Agiles Publishing» ist mehr als eine Denkschrift: Bestehende Arbeitsweisen werden auf den Prüfstand geschickt, viele konkrete Handlungshinweise erzeugen Lust darauf, die Anregungen schnell in der Praxis umzusetzen.

Aus dem Inhalt:
  • Agile Prozesse, neue Rollenbilder, Change Management
  • Content-Strategie, Publishing-Strategien und Crossmedia-Planung
  • Storytelling und User Experience Design
  • Natürliches digitales Design, datengetriebenes Design
  • Strategien für Digital Publishing
  • Responsive Design, digitale Anzeigen, Logiken der Programmierung
  • Agile Daten, Dynamic Publishing

Georg Obermayr, Matthias Günther, Detlev Hagemann: Agiles Publishing.

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