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Die Geschmacksfrage, uncodiert

Wer zahlt, befiehlt, aber der andere hat Recht.

Die Geschmacksfrage, uncodiert

Gestalter beklagen sich öfters, sie könnten sich nicht ausleben, der Kunde sorge für eine Nivellierung gegen unten. Alles Gejammer. Es ist noch schlimmer.

RALF TURTSCHI Ein lauer Märztag, Sonntag, 29., Krokusse strahlen bis in den hintersten Wohnungswinkel, die Küche erfüllt von warmem Mandelduft. Es ist ein besonderer Tag. Mein erster Cake steckt gerade im Backofen, es dauert gerade noch 10 Minuten, bis ich ihn präsentieren kann. Vorfreude und Erwartung sind gross. Ich habe den Einkaufszettel geschrieben, die Zutaten gekauft, Eiweiss geschlagen, Mehl, Mandeln und Zucker daruntergezogen, Mandelsplitter geröstet und die Masse in die Cakeform gefüllt. Die Ahs und Ohs bleiben nicht aus, die Bewunderung beim Kosten ist das Lob des Bäckers. Doch ich weiss nur zu gut, dass es feinfühlige Differenzen gibt: «Mmmh, sooo fein» bedeutet: «Hast du das Rezept?», «aah» heisst lecker, «aha» meint etwas trocken, aber immer noch geniessbar, bei «doch, doch» lässt man lieber die Frage nach einem zweiten Stück.

Wir alle sind seit frühester Kindheit mit einem hochsensiblen Geschmackssensorium ausgerüstet. Wir schmecken bitter, salzig, süss, sauer, in allen Variationen und Intensitäten. Was uns nebst anderen Kriterien massgeblich von anderen Säugern unterscheidet. Beim Schwein beispielsweise ist das nicht von vorherein so klar: Vom rosa Glücksschweinchen über das Trüffelschwein, die Kampfsau bis hin zur Eier legenden Wollmilchsau und zum Oligarchenschwein haben wir so allerlei Getier unter uns.

Wir Gestalter beschäftigen uns mit andern Sinnen. Wir kosten mit den Augen, nicht mit dem Mund. Trotzdem sprechen wir vom Geschmack, über den sich bekanntlich nicht streiten lässt. Unsere Geschmacksrichtungen sind hell, dunkel, farbig, unbunt. Um visuellen Geschmack zu beschreiben, greifen wir trickreich zu Metaphern: Eine Headline in der Boulevardzeitung schreit laut, die Einladung ist vornehm, der Prospekt zurückhaltend, das Bild verschwommen, der Text im Bild wirkt unruhig.

Diese vagen Beschreibungen sind unpräzise und werden von verschiedenen Betrachtern unterschiedlich interpretiert. Wir empfinden alle anders, wissen aber haargenau, was gut oder schlecht aussieht.

Oder manchmal eben nicht so genau. Da kommt der Kunde dann mit ebenso vagen Vorstellungen, um eine Gestaltungsarbeit zu kritisieren. «Es ist etwas lahm, zu wenig Pep» will heissen: «Da müssen wir eine andere Agentur beauftragen.» «Da ist zu viel Weiss, kann man nicht etwas reintun?», heisst uncodiert: «Ist Ihnen nichts eingefallen?» «Ich weiss nicht, was mir nicht gefällt, aber irgendet­was daran ist nicht gut», bedeutet nichts anderes als: «So einen Mist müssen Sie mir gar nicht zeigen.» Am schlimmsten ist das schwere und anhaltende Schweigen: «Kommentar überflüssig, dort ist die Tür!»

Wir können unsere Wahrnehmung nur schlecht beschreiben. Weshalb wissen wir, ob der Wein Korken hat, aber nicht, ob die Schrift zu gross oder zu klein gewählt wurde, woran es liegt, dass die Gestaltung etwas kontrastlos wirkt? Was sagt man einem Kunden, der behauptet, Arial sei klarer als Frutiger? Bedeutet: «Sie pomadisierter Nichts, so geschmacklos wie Sie bin ich schon lange!» «Bitte nehmen Sie die Tomaten von den Augen!», ist wohl nicht die richtige Antwort, wenn der Kunde Rot von Gelb nicht unterscheiden kann. Was sagen Sie einem, der behauptet, Blau gefalle ihm nicht, weshalb mans nicht mit Gelb versucht hätte? (Bedeutet: Die Chinesen machen alles viel billiger.) Oder: «Mit einer schönen Verpackungsgestaltung verkaufe ich kein Stück mehr und die Internetseite kostet nur, bringt aber nichts.» (Heisst: Ich will zurück zu meiner Sekretärin, lasst uns das hier schnell beenden.) Und überhaupt sei Werbung hinausgeschmissenes Geld (die bisher geleisteten Arbeiten sind mies und werden nicht bezahlt).

Ich habe mich noch nie getraut, solchen oder ähnlichen Grundsatzdiskussionen richtig zu begegnen. Was war genau der Punkt? Man ist dann einfach sprachlos. Hilft die Wissenschaft? Nein, es gibt keine Untersuchung über die Wirksamkeit eines Unternehmens­prospektes, keine Fakten über die Wirkung von gut gestalteter Korrespondenz. Vielleicht hätten Gegenfragen reinigende Wirkung. Ob es denn dem Unternehmen genauso nütze, Rasen ums Gebäude anzulegen, Bilder an die Wand zu hängen oder statt Holzschemel ordentliche Bürostühle zu besitzen? Dass die Kadermitarbeiter mit glänzenden BMWs herumfahren, sei auch nicht nötig, matt verrostete Occasionen mit profillosen Sommerpneus genügten doch auch! Warum kommt wohl der Kunde in Krawatte und Anzug statt in kurzen Hosen mit weissen Socken und Sandalen?

Nun ja, Gestaltung ist Geschmacksache. Wie beim Kochen auch. Wenigstens solange der Kunde dafür zahlt. Spitzengastronomie oder Hausmannskost? Ist die Suppe richtig versalzen oder nur ein wenig? Das Gemüse knackig oder breiig? Hat im Restaurant jemand schon die Beilage zurückgehen lassen und das Fleisch gegessen? Das ist der Unterschied zur Grafik, sie muss nicht heiss serviert werden.

Oder geht es vielleicht darum, dem kleinen Grafiker zu zeigen, dass man auch etwas vom Geschäft versteht? Will man mitreden, das Lob des Profis einfahren? Steckt einfach Kraftmeierei dahinter oder interne Grabenkämpfe? Vielleicht täten Kunden gut daran, ihre Zweifel zu präzisieren und Kritik sachlich anzubringen.

Grafiker ihrerseits sind gehalten, gutes Handwerk statt einer Show abzuliefern. Solange sie aber nicht zwischen Apostroph, Anführungs- und Zollzeichen unterscheiden können, ist ein professioneller Umgang mit Text und Bild unwahrscheinlich.

Es ist nämlich bedeutend einfacher, mit den Kunden über Alternativen und Varianten zu diskutieren, statt sich der «grossen Grundsatzfrage» zu stellen.