Unendliche Weiten des Weissraums
marc bodmer Wer gelegentlich an einem Rednerpult steht, um vor erwartungsvoll versammeltem Publikum zu referieren, blickte wohl etwas neiderfüllt auf die Bühne des zweiten Typografie-Symposiums Tÿpo St. Gal-len, das am Wochenende vom 20. bis 22. September 2013 in den Räumlichkeiten der Schule für Gestaltung am GBS St. Gallen abgehalten wurde. Die Lernenden der 3D-Polydesigner-Klasse hatten das «y» des Logos zu einem grosszügigen, strahlend weissen Stehpult aufgebaut. Die beiden oberen Serifen bildeten perfekte Ablageflächen für Laptop und Unterlagen der Redner, die auf ausverkaufte Reihen schauen konnten.
«Die Polydesigner haben den Weissraum spürbar gemacht», erklärten Thomas Gerig, Leiter Abteilung Schule für Gestaltung Weiterbildung und höhere Berufsbildung, und Daniel Kehl, Leiter Abteilung Schule für Gestaltung Grundbildung, in ihren Begrüssungsworten. Doch nicht nur zum Greifen gab es die Buchstaben, man konnte sich auch auf ihnen niederlassen oder ihnen als dekorative Elemente von Bäumen hängend auf dem Vorplatz begegnen.
Die Schule im Herzen der Schweizer Hochburg der guten Typografie und Buchgestaltung bot den 19 internationalen Referentinnen und Referenten sowie dem interessierten Fachpublikum einen herzlichen Empfang und verlieh den Räumlichkeiten einen musealen Erlebnischarakter. Draussen bearbeiteten angehende Bildhauer Steinplatten und meisselten – im sprichwörtlichen Sinne – drei Buchstaben aus den Namen der geladenen Redner in Stein. Das Werk durften Letztere als Geschenk mit nach Hause nehmen. Die Ateliers der Fachklasse Grafik standen neugierigen Blicken offen. Schaukästen zeigten fein säuberlich geschriebene Briefe aus der privaten Sammlung des St. Galler Buchgestalters Jost Hochuli und zelebrierten auf so dezente wie eindringliche Weise die im Zeitalter der fortschreitenden Digitalisierung bedrohte Handschrift. Auf schicken schwarzen Teppichen war ein Walk of Fame, den Sternen des Hollywood-Boulevards nachempfunden. Doch sie waren nicht mit den Namen von Leinwand-Sternchen, sondern der Referentinnen und Referenten bestückt und versinnbildlichten den Stolz der Organisatoren, die wiederum Stars der Typografie-Szene anzulocken vermochten. «Was kann einer Schule Besseres passieren, als eine solche öffentliche Plattform für die Weitergabe von Wissen und Erfahrung zu schaffen? Das Engagement der Schule für Gestaltung St. Gallen wird damit für die Arbeitswelt Kunst, Gestaltung und Design auf eine sympathische Art und Weise sichtbar – und das weit über die Landesgrenzen hinaus», erklärt Thomas Gerig.
Das diesjährige Symposium fand zum Thema Weissraum statt. «Am Anfang von jedem Projekt steht ein weisses Blatt, auf dem die Ideen entwickelt werden», umschreibt Roland Stieger, Lehrgangsleiter Typografische Gestaltung an der Schule für Gestaltung St. Gallen und Programmleiter der Tÿpo, den Ursprung des Mottos. «Ohne Weissraum gibt es keine Typografie. Er ist wie die Luft zum Atmen», sagt Stieger. So klar diese Aussage, so unterschiedlich, ja philosophisch fallen weitere Interpretationen aus und offenbaren das Potenzial der Thematik.
Den Raum verdichten oder Dynamik spielen lassen
Jonas Vögeli, der Shooting-Star der Schweizer Grafik, zieht für seine Sicht des Weiss den Fussball zu Hilfe: «Wie beim Fussball spielt der Raum in der Typografie und im Layout eine wichtige Rolle. In diesem Dazwischen findet das Spiel statt und offenbart sich dessen Charakter.» Persönlich bevorzugt der talentierte Mann hinter dem Atelier Hubertus Design das Spiel auf engem Raum, ohne aber langen Bällen ihre Qualität abzusprechen: «Diese verlangen Präzision und Übersicht. Sie vermögen dem Spiel auch Dynamik zu verleihen.» Etwas weniger Bewegung, dafür mehr Sorgfalt in der Planung und Herangehensweise wünscht sich Sämi Bänziger des kreativen Duos Bänziger Hug insbesondere bei der Gestaltung von Online-Auftritten. «Der Gestaltung von Websites nähern wir uns auf gleiche Weise, wie wenn wir ein Buch realisieren müssten», sagt der St. Galler. «Von der Idee, dass man in digitalen Medien immer alles ändern kann, sollte man sich gleich zu Beginn verabschieden und den Weissraum sowie dessen Rolle klar definieren.»
Solche Worte sind Musik in den Ohren des deutschen Grandseigneur der Typografie, Erik Spiekermann. In einem ebenso fulminanten wie witzigen Panoptikum, das er zum Ende des ersten Symposium-Tages zum Besten gab, hat der nicht-gelernte Schriftsetzer – «Ich habe meine Setzerlehre abgebrochen. Ich mache nichts fertig, das ist bis heute noch so.» – frei nach Tucholsky seine Philosophie der Löcher präsentiert: «Wer mit Weissraum umgehen will, muss rechnen und planen können», erinnerte der Berliner an die Zeiten des Bleisatz, der heute besonders in den USA ein Comeback der eher verkitschten Art feiert.
Die Rolle des Weissraums oder vielleicht besser die gestalterischen Möglichkeiten haben sich in den letzten Jahren stark verändert. Früher war es richtig teuer, Seiten mit Weissraum zu gestalten, nicht zuletzt weil das Papier seinen Preis hatte und auch der Stundenlohn eines Setzers ins Geld ging. «Ich habe mir kürzlich eine Ausgabe der Neuen Zürcher Zeitung aus dem Jahr 1903 angeschaut», sagt Jonas Vögeli. «8 Seiten, 1 Inseratseite, 5-Punkt-Schrift, wenn überhaupt, dann nur kleine Fotos. Weissraum war schlicht inexistent.» Doch für den visuellen Gestalter besteht ein relativer Zusammenhang zwischen Inhalt und Form: «Geht es lediglich darum, die Information zu konsumieren, wie zum Beispiel auf einem Smartphone oder Tablet PC, dann treten gestalterische Elemente in den Hintergrund. Selbst bei einem Paperback ist die Form sekundär», gesteht der Buchliebhaber. «Hier geht es um den Inhalt, um eine Wortsuppe, in die ich abtauchen kann.» In diesem Zusammenhang weist Vögeli auch auf einen Wandel der Bedeutung von Büchern hin: «Es geht vielmehr um physische Präsenz. Bücher sind je länger, je mehr Accessoires, die ihre Rolle als Informationsträger zu verlieren drohen.»
Das Buch – eine Liebesbekundung
Illustrative Beispiele für diese Entwicklung lieferte Vögeli in seiner multimedialen Präsentation gleich selber: Bücher, die eigentlichen Event-Charakter haben und zeigen, dass das gebundene Werk längst nicht ausgedient oder an Reiz verloren hat. Oder besser gesagt: dass man sich wieder auf die Ursprünge der Folianten besinnen soll, denn ihnen gebührt Respekt. So gestaltete Jonas Vögeli zusammen mit Matthias Michel im Auftrag des Collegium Helveticums der ETH und Universität Zürich «ein Buch wie vor 100 Jahren», das Utopien zum Inhalt hatte. Das Raffinement des Designs versteckte sich nebst der retro-orientierten Schriftwahl im Umschlag, der mehr zu verbergen hatte, als der erste Blick offenbarte: Einen Code aus 423 Wörtern – die Quersumme ergibt mystische 9 – wurden dank thermochromatischem Druck erst ab 27 Grad Celsius sichtbar. Der Wortzahl auf der Hülle entspricht auch die Seitenzahl. Die «Archäologie der Zukunft» – so der Titel des preisgekrönten Werks – erschien auch in einer Sonderedition, die ihre versteckten Informationen erst bei sanftem Zuspruch oder milder Musik preisgab: «Anschreien bringt nichts», verriet Vögeli mit einem Schmunzeln, als er die komplexe Technik erklärte, die Sensoren, Leiterplatten und einiges an Kabeln umfasste.
Doch nicht nur Jonas Vögeli entpuppte sich als Bücher-Fan. Auch die jungen Designer Samuel Bänziger, Rosario Florio und Larissa Kasper erwiesen dem Buch bei ihrer clever inszenierten Präsentation, die Videofilm und Live-Kommentar auf kongeniale Art miteinander verband, die Ehre. Sie schienen vom Geist der Buchstadt St. Gallen beseelt, die Heimat der Stiftsbibliothek ist, der ältesten Bibliothek der Schweiz und eine der grössten und ältesten Klosterbibliotheken der Welt. Bänziger, Florio und Kasper – die beiden Letzteren sind Abgänger des Lehrgangs für visuelle Kommunikation der Schule für Gestaltung St. Gallen – präsentierten mit Begeisterung ihre Atlanten und einen spielerischen Umgang mit Weissraum. Das ging gar so weit, dass die Leser – oder in diesem besonderen Fall vielleicht eher die Nutzer – eine Reihe weisser Seiten zum Schluss des Buches vorfinden, die sie mit mitgelieferten Bildern neu gestalten können. Die blanken Seiten symbolisierten so perfekt, um was es beim Weissraum schliesslich geht: um Raum für Gestaltung.
Die Philosophie des Weissraums
Die Bedeutung des Weissraums wandelt sich im asiatischen Kulturkreis, weiss Susanne Zippel, die sich auf die Gestaltung von Präsentationen und Unterlagen westlicher Firmen spezialisiert hat, die mit Asien ins Geschäft kommen wollen. «In Japan spielt Weiss eine grosse Rolle. Es steht in der Shintõ-Religion für Reinheit, Klarheit und Licht», erklärt die Autorin des Buches «Fachchinesisch Typografie». Mehr noch als in unseren Breitengraden steht die Ausgewogenheit des Layouts im Vordergrund: «Ausgehend von der Yin- und Yang-Polarität muss in China das Verhältnis zwischen Raum und Nicht-Raum ausgeglichen sein. In Japan ist die Freiheit grösser. Hier dient der Weissraum zum Atmen.»
Luft zum Atmen, die Lungen eines Textes, das Licht oder gar die Erleuchtung – die Wortwahl der Designer und Typografen machen die geradezu philosophische Rolle des Weissraums deutlich und mit welchem Respekt ihm selbst im digitalen Zeitalter begegnet wird. «Wir lesen den Rhythmus zwischen Schwarz und Weiss, und die Pausen sind das Wichtigste dabei», sagt Erik Spiekermann und weist auf eine Herausforderung hin, die sich bei der Gestaltung von Inhalten für Bildschirmmedien stellt: «Wie soll ich einen längeren Text gliedern?» Was nach einer einfachen Frage klingt, dringt tief in über Jahrhunderte entwickelte Gewohnheiten: Soll man scrollen, also den Text wie ein endloser Wurm über die Bildschirm-Vertikale wandern lassen oder blättern wie bei einem Printmedium? – Spiekermann: «Wir reden von einem Paradigmen-Wechsel. Bildschirme zeigen Inhalte nacheinander. Die synchronoptische Wahrnehmung, also das gleichzeitige Sehen von unterschiedlichen Dingen, die vielleicht nur zufälligerweise auf der gleichen Zeitungsseite gelandet sind, gibt es beim Lesen am vergleichsweise kleinen Monitor nicht.» Man ist zu einem logischeren Vorgehen gezwungen – als Leser, aber auch als Layouter.
Abschliessende Antworten vermochte die diesjährige Tÿpo St. Gallen zum Thema Weissraum nicht zu liefern, doch das war auch nicht das Ziel. Vielmehr zeigte sich, wie sehr sich Layout und Typografie im Wandel befinden und dennoch der Schnelllebigkeit mit handwerklichem Qualitätsverständnis und einem lebendigen Traditionsbewusstsein zu trotzen vermögen. «Tradition ist nicht das Halten der Asche, sondern das Weitergeben der Flamme», hat es einst der Humanist Thomas Morus umschrieben. An der Tÿpo wurde das Licht des Weissraums weitergereicht und hat in manchem Besucher ein Feuer entfacht.