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Bilder lesen und interpretieren

Bemerkenswert, wie wir alle in der Schule das Alphabet gelernt haben. Da die Medienaufmerksamkeit heute vor allem Bildern gilt, sollten wir vielmehr lernen, wie Bilder ­gelesen werden.

Ralf Turtschi Ich traue mei­nen Augen schon lange nicht mehr. Eigentlich seit ich begonnen habe, zu fotografieren, und das ist schon eine Weile her. Was ich damals sah, war nicht das, was ich auf Diafilm abbilden konnte. Und das, was auf dem Film drauf war, konnte in einem Printprodukt nur annähernd wiedergegeben werden. Schuld an diesem Dilemma waren die Materialien und Techniken, die auch heute noch Mühe bekunden, Farben originalgetreu von einem Medium auf ein anderes zu übergeben. Mit dem RAW-Format sind wir der Realität ein gutes Stück nähergekommen. Was nützts? Wie die Collage oben zeigt, ist bei den Hauttönen Beliebigkeit Trumpf und wir sind weiter denn je von originalgetreu weg.

Mich interessiert hier, was bei der Aufnahme zentral wichtig ist, das heisst, was entsprechend sorgfältig verarbeitet werden muss und was eher vernachlässigt werden kann. Ein etwas ketzerischer Gedanke, ich weiss, denn wer will und kann schon vorsätzlich nachlässig sein? Wer aber am Dogma der Bildwahrheit festhält und ohne Ausnahme reprotechnisch immer das Maximum herausholt, der müsste sich auch mal über Ökonomie Gedanken machen.

Zum Bildbegriff. Ein Bild ist ein visu­eller Sinneseindruck, der im Gehirn mit einem gespeicherten Repertoire abgeglichen wird. Sehen, Abgleichen, Erkennen, Interpretieren und Speichern ist eine Wahnsinns-Sinnesleistung, die mit dem ersten Lidschlag automatisch beginnt. Wir können diesen permanenten «Datenstrom» nicht abstellen. Durch das Abgleichen sind wir in der Lage, Bilder einzuordnen und zu interpretieren. Sie liefern die Datenbasis für unser Handeln. Ganz archaisch gesehen war das vor langer Zeit Flucht oder Jagd/Ernährung.

Beim Datenstrom handelt es sich um einen «Film», der permanent und zeitgebunden abläuft und der mit weiteren Sinneseindrücken wie Ton oder Geruch untermauert wird. Das Gehirn liefert nur eine vage Vorstellung des Gespeicherten, doch es sind «lebendige Filme» und «unbewegte Fotos». Wir erinnern uns an Bilder ähnlich, wie wir auch Gerüche, Musik oder Geschmacksrichtungen behalten können. Bilder sitzen also vernetzt im Kopf und manifestieren sich nicht auf einer Oberfläche. Monitore sind nur technische Hilfsmittel zur Simulation von Bildern. Immer.

Mich interessiert nun, was denn genau von einem fotografierten Bild gespeichert wird und wie dieses aufbereitet werden soll, damit es behalten werden kann. Das Wissen um die Vorgänge im Auge-Hirn-System ist für alle Werbetreibenden und Marketingfachleute von zentralem Interesse, selbstredend auch für alle Fachleute, die sich mit Bildern beschäftigen, und das sind heute praktisch alle. Bilder funktionieren anders als Text. Sie erreichen uns in Millisekunden, berühren uns oder lassen uns kalt. Bilder bedürfen keiner Sprache, sie funktionieren auf der ganzen Welt. Den Text müssen wir uns kulturell aneignen, es ist eine spezielle Zeichensprache notwendig, die an der eigenen Sprachgrenze aufhört zu existieren. Je nach Sprachkompetenz werden Texte mehr oder weniger verstanden. Auch Zeichen, Musik oder Träume vermögen starke Bilder zu erzeugen. Beim Lesen dauert der Vorgang des Erkennens viel länger als beim Bild.

Fotografische Abbilder werden also blitzschnell gesehen und im Hirn abgeglichen. Es folgt das Erkennen und nachfolgend das Interpretieren. Es ist unsinnig, zu behaupten, dass Texte mit der linken Hirnhälfte verarbeitet werden und Bilder mit der rechten. Wie wenn das Hirn bei der Interpretation eines Bildes nichts Rationales zu tun hätte!

Voraufmerksame Verarbeitung

Wenn unser Hirn visuelle Signale erhält, kommt es zu einer voraufmerksamen Verarbeitung. Die geschieht in automatischen Prozessen, die wir in unseren Genen haben, und die wir nicht bewusst steuern können. Als Erstes decodieren wir die visuelle Ordnung des Bildes: Was ist unten, was oben, was vorn und was hinten? Was ist auf dem Bild zu erkennen? Hier greifen die Gestaltgesetze, die allgemeingültig sind. Zum Beispiel sagt das Figur-Grund-Gesetz, was vorn und was hinten ist. Es gibt eine ganze Reihe von solchen Gesetzmässigkeiten aus Formen- und Farbenlehre, die gut erforscht und dokumentiert sind. Bemerkenswert ist die Leistung des Gehirns, auf einem Bild problemlos oben und unten zu erkennen, obwohl es flach auf dem Tisch liegt.

Aufmerksame Verarbeitung

Jetzt kommt es zur aufmerksamen Verarbeitung. Wir beginnen das Bild zu entdecken und scannen es in Augensprüngen (Sakkaden). Es gibt dabei keine Präferenz, wo man mit dem Betrachten beginnt. Beim Lesen ist es anders, wir lesen nun einmal von links nach rechts und von oben nach unten. Das Bild scheint von der visuellen Organisation zu leben. Das heisst, wenn das Auge einen Bildteil als Figur vermutet, schaut es eben erst dort nach. Bei einem Porträt, welches rechts im Bild liegt, schaut niemand zuerst in die Mitte oder an den linken Rand.

Der Mensch fühlt sich von be­stimm­ten Reizen unterschiedlich stark angezogen. Nacktheit, kindliche Gesichter, kleine Tiere, Gewalt, Naturkatastrophen, Schrecken, Angst sollen beispielhaft genannt werden. Solche Bilder werden uns die Medien immer wieder servieren, weil sie stärker wirken als Bäume, Pneus oder Kaffeebecher. Dabei werden die Gefühlslage und die Betroffenheit der Leserinnen und Leser ausgenützt. Diese soziokulturell bedingten Reize funktionieren in allen Gesellschaften etwas unterschiedlich.

Rangfolge der Reize

Christian Doelker spricht in seinem Buch «Ein Bild ist mehr als ein Bild: Visuelle Kompetenz in der Multimedia-Gesellschaft», 2002, Klett-Cotta, von einer Rangfolge der Reize, die von einem Bild ausgehen. Die Bildreize haben eine reflektorische Zuwendung zur Folge, der wir uns nicht entziehen können. Wir müssen einfach hingucken. Nicht jeder Mensch ist gleich konditioniert, jeder hat andere Vorlieben und wird etwas anders angesprochen. Trotzdem gibt es Reize, die auf die meisten Menschen eine grosse Kraft ausüben.

1. Bewegt vor unbewegt

Alles, was sich bewegt, übt eine stärkere Faszination aus als etwas Unbewegtes. Videoclips fesseln stärker als Fotos.

2. Primär vor sekundär

Basierend auf der Maslow’schen Bedürfnispyramide wirken primäre Bedürfnisse wie Nahrung, Kleidung, Schutz, Sexualität, Heimat usw. stärker als sekundäre Bedürfnisse wie Möbel, Autos, Beruf oder Laubbläser.

3. Auffällig vor neutral

Auffällig fotografiert heisst verfremdet, umgefärbt, zusammengesetzt, mit Filter abstrahiert, aus ungewöhnlicher Perspektive, mit falschem Licht, schwarzweiss, monochrom usw.

4. Visuell vor verbal

Hier gehts generell um die Aussage, dass Bilder stärken wirken als Text. Als Beispiel sind Piktogramme erwähnt, die unser Leben beim Gebrauch des Handys oder im Verkehr erleichtern. Etwas visuell Aufbereitetes wird in den Medien als attraktiver empfunden und eher gesehen als eine Textplantage, die erst mühsam erarbeitet werden muss.

Interpretation

Die aufmerksame Verarbeitung dient dem genauen Erkennen des Bildes als Grundlage für die Interpretation. Bisher ist es uns spielend gelungen, das Bild zu erkennen und auch im Hirn mit gespeicherten Informationen abzugleichen. Die Interpretation ist eine ganz andere Geschichte, weil wir alle auf Reize etwas unterschiedlich reagieren. Ein Bild, das den Mann sexuell stimuliert, tut dies nicht bei der Frau. Bilder erzeugen Wirkungen, die für alle gleich sind, aber auch solche, bei denen es starke Unterschiede gibt.

Zur Interpretation gehört auch das eigentliche Speichern im Hirn. Wir behalten das formale Bild zusammen mit der Interpretation. Viele Menschen können nicht einmal sagen, welcher Farbton aus der Mischung von Orange und Blau entsteht. Es wäre vermessen, zu vermuten, dass sie Post-Gelb oder Nivea-Blau exakt abrufen können. Die Qualität der Beautyretusche, die Bildschärfe oder -unschärfe, die Flecken im Himmel, die ausgefressenen Wolken, der zu dumpfe Grünton der Wiesen, der warme Farbstich am Cheminéefeuer – all dies kompensiert der Abgleich im Hirn mit Leichtigkeit. Wir können unscharfe Gesichter identifizieren oder Cartoons zuordnen. Das Hirn kennt kein Color Management, es ist ihm völlig egal, ob das Meer damals türkis oder azurblau schimmerte. Wer kann schon aus der Erinnerung die RGB-Werte des Himmels im Oktober beschreiben? Weshalb dann dieser Perfektionismus?

Worauf ich hinaus will: Es ist schon recht, wenn mit den heutigen technischen Hilfsmitteln das Maximum mit einem Minimum an Aufwand aus den Fotos herausgeholt wird. Man sollte den Wert der Arbeit hinterfragen. Fragwürdig ist, «stundenlang» ein Detail zu bearbeiten, welches kein Mensch memorieren kann. Es gibt keine Bild- und Farbwahrheit – manchem Dogmatiker und manchem Auftraggeber würde ein bisschen mehr Leichtigkeit und gesunder Menschenverstand gut anstehen.

Die Form kommt vor der Farbe

Wir sortieren die Reize nicht nach roten oder gelben Bildanteilen. Eine menschliche Gestalt mit zwei Latten an den Füssen auf weissem Grund könnte ein Skifahrer sein. Ein rotes Krabbeltier mit schwarzen Punkten auf einem grünen Etwas? Könnte ein Marienkäfer sein. Das Verwischen der eigenen Kontur mit dem Hintergrund entscheidet in der Tierwelt über Leben und Tod. Die Form ist auch bei Schwarzweiss-Bildern vorhanden, die Farbe nicht. Nächtliches Sehen ist Schwarzweiss-Sehen und nicht Farbsehen.

Wir sind darauf programmiert, zuerst Bewegung wahrzunehmen, dann die Form, dann die Farbe. Der Gral «Farbe» ist sekundär. Bemerkenswert, da die grafische Industrie und die Werbung von der Farbe leben und sie zuweilen zentral in den Mittelpunkt stellen, sei es beim Color Management oder bei der Bildaufbereitung (Histogramm, Gradationskurve, Weissabgleich, Sättigung, Kontrast, Verfremdung usw.). Wir leiden unter 40-Megapixel-Wahn und haben einen veritablen 16-bit-Farbenrausch … um die coolsten Bilder mit Instagramm zu verteilen. Zur Erinnerung: Das sind je 281,5 Billionen (!) rechnerisch darstellbare Farben auf 40 Mio. Pixeln. Verkehrte Welt.

Bildsprache

Der Begriff der Bildsprache treibt viele Marketingverantwortliche um. Die Bildsprache bezieht sich vor allem auf mehrere Motive, selten auch auf einzelne. Die Bilder sollen sich ähneln und einen starken Markenbezug schaffen. Eine klare Bildsprache kann schon bei der Fotografie (Licht, Perspektive, Kameraposition, Tiefenschärfe, Bewegungsunschärfe) entstehen, aber auch in der Postverarbeitung (Composing, Verfremdung, Aufhellen, Schwarzweiss-Umsetzung).

Ob der Fotograf per se eine Bildsprache als seine unverkennbare Signatur entwickelt, mag sein, wenn er sich auf ein Genre konzentriert. Sonst gilt: Makro und Landschaft liegen so weit auseinander wie Food und Extremsport.

Der Autor

Ralf Turtschi ist gelernter Schriftsetzer, Buchautor und Publizist. Er ist Inhaber von Agenturtschi und als engagierter Fotograf unterwegs. Der Autor schreibt im Pub­lisher seit Jahren praxisbezogene Beiträge zu Themen rund um Typografie und Gestaltung.

Mail: turtschi@agenturtschi.ch