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Die Sprache der Handschriften

Der Ursprung der Schrift liegt im handwerklichen Charakter. Als Trägermaterial wurden im Verlauf der Zeit Knochen, Steine, Hölzer und Wachstafeln verwendet, entsprechend war die Technik an das Trägermaterial gebunden. Später folgten Papyrus, Pergament und Papier, die mit flüssigen Farbpigmenten und einem Stylus beschrieben wurden.

Ralf Turtschi Die lange Ge­­schichte der Schrift ist eng verbunden mit dem handschriftlichen Duktus. Die Lebendigkeit der Handschrift ist im Vergleich mit den klassischen Fonts um ein Vielfaches grösser. Während es die klassischen Druckschriften wie Futura, Helvetica, Garamond, Frutiger & Co. meist darauf anlegen, nach Formprinzipien wie Geraden oder Kurven einheitlich zu funktionieren, verkörpern Handschriften das bare Gegenteil. Je unterschiedlicher die Buchstaben, desto echter sieht es aus. Die Glaubwürdigkeit einer digitalisierten Handschrift hängt in hohem Mass davon ab, wie weit der Gestalter mehrere Formen für einen einzigen Buchstaben findet, der dann in der Anwendung zu einem lebendigen Schriftbild führt.

Vor der Einführung des betriebssystemübergreifenden OpenType-Font­formates 1996 waren die Zeichensätze (heute Glyphen) auf 256 Zeichen limitiert. Mit allen vorkommenden Sonderzeichen oder Fremdsprachen war man bald am Limit – vier verschiedene Formen für einen Buchstaben lagen schlicht nicht drin. Bei den klassischen Schriften hat man deshalb zusätzliche Zeichensätze geschaffen, die zum Beispiel die Zusatzbezeichnung exp oder alt oder CAPS aufweisen. 1996 wurde das Tor zu mehr Glyphen weit aufgestossen, ein OpenType-Zeichensatz kann bis gegen 65 000 Glyphen enthalten. Eine andere Frage ist, ob es einen Designer gibt, der diese alternative Zeichenvielfalt auf sich nehmen will, oder ob er sich mit einem Standardzeichensatz begnügt.

Handschriftliche Fonts gibt es heute auch zum Gratisdownload aus aller Herren Ländern. Aber aufgepasst: Solche Fonts verfügen meistens nicht einmal über Umlaute, geschweige denn über diakritische Zeichen oder Sonderzeichen wie das Eurozeichen. Solche Free-Fonts kann man allerdings relativ leicht mit weiteren Zeichen ergänzen.

Wem dann die Urheberschaft zuzuordnen ist, wenn mehrere Gestalter beteiligt sind, ist eine andere Geschichte.

Einteilung

Eine Einteilung von Handschriften, die im Fachjargon auch Scripten genannt werden, ist nicht einfach, denn viele tragen mehrere Merkmale. Fontshop teilt in der App «Fontbook» die Scripten in fünf Kategorien ein: handschriftlich, klassizistisch (statisch), humanistisch (dynamisch), frei/hybrid und linear. Allein Fontshop bietet heute 1500 verschiedene Scripten an. Bei all diesen Scripten gibt es leserliche und weniger leserliche Ausführungen. Es gilt die Maxime: Je länger der Text, desto leserlicher muss die Schrift sein. Bei einem Magazintitel oder bei einem kurzen Einleitungstext ist eine Handschrift in Ordnung, auf einer Glückwunschkarte ebenfalls, auf einer Packungsbeilage eher nicht.

Wo einsetzen?

Scripten sind etwas Besonderes. Sie sind im Mengensatz nicht brauchbar, weil zu wenig gut leserlich. Auch im Bereich Corporate Type gibt es kaum Entfaltungsmöglichkeiten, denn ein verschnörkeltes A ist nun einmal weniger klar und schnell erfassbar als ein serifenloses A. Im Internet, auf Smartphones oder Tablets? Fehlanzeige.

Scripten sind beliebt bei besonderen Anlässen wie Hochzeits- und Geburtskarten oder Trauerkarten. Bei Menükarten sieht man viele Scripten, im Logobereich haben sie ihre Stärke. Scripten wirken sehr persönlich, man sieht sie auch bei Slogans häufig (Manor), oder bei Etiketten und Preisschildern (Globus Delicatessa, Lush, Esprit).

Das Besondere

Eine Script wirkt dann besonders, wenn sie nicht schon im Dutzend angewendet wurde und sattsam bekannt ist. Dies herauszufinden, ist in Anbetracht der schieren Vielfalt nicht ganz einfach.

Die Scripten, die ziemlich verbreitet sind, heissen Mistral, Brush Script, Reporter, Tekton oder Kaufmann. Man sieht sie auch häufig auf Geschäftswagen von Gewerbebetrieben, vom Maler über den Gärtner bis hin zum Pneuhaus. Es ist zu vermuten, dass diese Schriften auf den Computern einfach verfügbar sind und sie zur Arial eine vermeintlich persönliche Alternative darstellen. Als in den Neunzigerjahren dann die Erikrighthand und die Justlefthand das Licht der Welt erblickten, atmeten die Typografen auf: endlich eine modernere Art von Handschrift, die nicht den muffigen Atem der Sechziger verströmte. Die beiden etablierten sich sofort in der Szene und setzten einen neuen Meilenstein.

Hermann Zapf nutzte 1998 mit seiner Zapfino erfolgreich die OpenType-Schrifttechnologie. Die Zapfino gibt es in den vier verschiedenen Schriftschnitten Zapfino One, Two, Three und Four, die einen handschriftlich anderen Charakter ergeben, die aber dennoch aus der gleichen Schreibstube zu stammen scheinen. Die kalligrafische Zapfino ist von Festanlässen heute nicht mehr wegzudenken, sie ist bereits 15 Jahre später als Klassiker zu bezeichnen, der in jede Schriftbibliothek gehört. Mit der Zapfino ist es möglich, individuelle Schriftzüge zu bauen, mit unterschiedlichen Buchstabenformen und Schwungstrichen. Die Originalhandschrift unterscheidet sich von der digitalisierten Schrift, indem alle Buchstaben von Neuem geschrieben sind und ein bisschen anders aussehen. Bei der digitalisierten Schrift sind alle Buchstaben gleich.

Das Unternehmen Lush (www.lush-shop.ch), welches handgemachte Kosmetika aus Frischprodukten herstellt und in einem eigenen Filialnetz vertreibt, geht hier einen besonderen Weg. Die kalligrafisch gepinselten Preisschilder und Beschriftungen im Laden sind tatsächlich handgeschrieben, gemäss der Philosophie der handgefertigten Produkte. Dazu lernen Mitarbeiter anhand des Schriftbildes die weisse Pinselschrift zu kalligrafieren und beschreiben so die Filialen von Hand! Die gleiche Schrift wurde aber auch digitalisiert, sie sieht dort etwas dünner aus, ist jedoch vom gleichen Strich.