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Die Visualisierung als Erz�hlform

Nach gängiger Lehre kennen wir die Einteilung in Text und Bild, wobei mit Bild die Fotografie und deren Reproduktion gemeint ist. Hinter dem Begriff Bild steckt weit mehr.

Ralf Turtschi Die Ausbildung beschäftigt sich heute mehrheitlich mit der Reproduktion von Fotografien mittels Photoshop. Es geht um die technische Aufgabe, ein Abbild so zu drucken, dass es der Vorlage entsprechend wirkt. Dabei zieht uns Photoshop mit Masken, Kanälen, Pfaden, Filtern, Histogrammen und Schärfungsmöglichkeiten derart in Bann, dass kaum Zeit für die Interpretation und die Bildwirkung bleibt.

Die Bildwissenschaft ist im Gegensatz zur Literaturwissenschaft oder Kunstgeschichte eine relativ junge Disziplin. Es ist kaum erforscht und wissenschaftlich dokumentiert, wie unser Auge-Hirn-System funktioniert. Man weiss schlicht nicht, ob mehr Reisen gebucht werden, wenn der Himmel im Ferienkatalog mit 100 % Cyan und 50 % Magenta gedruckt wird, oder ob es besser ist, ihn stattdessen mit 100 C, 80 M und 15 K zu drucken. Man hat keine Ahnung, wie weit ein Hautton die Leser beeinflusst: Wie wirkt ein heller oder ein bisschen dunklerer Ton, wie wir ihn mit Photoshop­mitteln generieren – löst er grundsätzlich andere Empfindungen oder Handlungen aus? Es sind heute die Grafiker in den Kreativschmieden, die durch Ausprobieren und Retroversuche Bildwelten schaffen. Zurzeit ist das lichte, farblose Bild angesagt, morgen ist es vielleicht die Kunterbuntheit der Hippiezeit. Befinden wir uns mit unserem Pixelfetischismus gar in einer grossen Sackgasse? Kommt all unser Bemühen gar nicht bei unseren Kunden an oder stimmt das Gegenteil? Ist es so wie in der Typografie, wo Fehler allenfalls noch mit einem Achselzucken registriert werden?

Bei der breiten Masse, die heute Texte und Fotos in sozialen Netz­werken veröffentlicht, ist die publika­tionsmässige Hemmschwelle bei null angelangt. Da muss man sich schon die Frage stellen, ob das einstige handwerkliche Können noch gefragt ist, das heisst zu Verdienst führt, oder ob unser Tun grundsätzlich hinterfragt werden sollte. Wo es doch immer raffiniertere Software gibt, die im Hintergrund arbeitet und aus den Pixeln automatisch das Letzte herausholt. Mindestens sollte sich die Lehre mehr damit beschäftigen, wie mit Bildern der generelle Informationskonsum vereinfacht, beschleunigt oder verbessert werden kann.

Rezipienten sind immer auch Bildautoren, die eigene Bilder von der Wirklichkeit generieren. Dies geschieht im Sinn eines generativen Prozesses der «Müllbeseitigung». Die Realität wird als dynamisch empfunden, als «laufender Film». Ein Bild auf dem Bildschirm zu erkennen, ist an sich schon eine unglaubliche Abstraktionsleistung des Gehirns. Das Loslösen von der Zeitachse führt zum Standbild im Gedächtnis, was irreführend sein kann, weil es die dynamischen Prozesse einfriert. So geschieht es mit Bildern, welche Bewegung festhalten möchten, was mittels Fotografie nicht geleistet werden kann. Ein donnernder Wasserfall, das Glitzern von Wasser­oberflächen oder der stille Fall von Schneeflocken kann man nur beschränkt fotografisch festhalten, weil die Bewegung den prägenden Eindruck ausmacht. Unser natürliches Sehen ist zudem ein räumliches Sehen. Das, was wir als Zeichnung oder als Fotografie wiedergeben, ist hingegen flach und zweidimensional. Auch diese Übersetzungsarbeit leistet das Hirn anscheinend mühelos.

Wer sich eingehend damit beschäftigt, wie das Hirn auf alle möglichen Bildformen reagiert, der wird vieles an perfektionistischem Photoshop-Know-how rasch relativieren.

Wie wir Bilder lesen und verarbeiten, wird in der Ausbildung nicht gelehrt, weder in der Schule noch in der Polygrafenlehre. Erstaunlich, da wir doch auf der Schwelle stehen, uns vom Alphabet schrittweise zu verabschieden und wo wir Dokumente mehr und mehr in Form von Filmen und Bildern konsumieren und ablegen. Bildkompetenz besteht in erster Linie aus Interpretation und Beeinflussung der Bildwirkung. Es ist unklug, nur reprotechnisches Photoshopwissen anzuhäufen.

Entscheidend bei einer Bild­erzählung ist doch allein, ob das Bild überhaupt gesehen wird und wie es in Erinnerung gerufen wird. Und in solchen Prozessen ist es höchst unwahrscheinlich, dass die Unscharfmaskierung oder die Farbgebung der Wiese – im Sinn von ± 5 % Cyan – eine wesentliche Bedeutung haben. Der Bildinhalt und die Bearbeitungs­methoden, die diesen steuern, kommen demzufolge vor der reinen Reproduktions­technik. Es ist dabei festzuhalten, dass ein Zusammenhang besteht. Es wird hier nicht behauptet, dass ein Bild in der Art Kohlensack ebenso viel Aufmerksamkeit erhält wie eines, das gut aufbereitet ist. Aber dass die Grösse des Bildes und der Ausschnitt wichtiger sind als die Unscharfmaskierung.

Die bildliche Erzählform

Von der Kreation her gesehen, geht es nicht nur um fotografische Bilder, sondern um alles, was sich ausserhalb der Fotos bewegt, um Zeichnungen, Grafiken, Illustrationen usw. Die Krux ist vor allem ökonomischer Natur. Eine Illustrationsgrafik zu erstellen, benötigt einiges mehr Fachwissen und handwerkliches Können, als ein Knipsbild herzustellen. Sie ist demzufolge aufwändiger und teurer, gleichzeitig aber auch auffälliger, weil weniger verwendet.

Diese Erzählformen begleiten uns im Alltag, ohne dass wir uns dessen bewusst sind: Emoticons auf dem Handy, Piktogramme auf der Toilettentür, Beschilderungen, Signalisationen oder die berüchtigten Bauanleitungen für Möbel, Gartengrills usw. Die unten stehende Ordnung zeigt die Vielgestaltigkeit des Bildes auf, der Teil «Fotos» deckt halt eben nur einen kleinen Teil der Bilderwelt ab.

Die Erzählform Bild greift ökonomisch zum Foto, wo es das Bestehende leicht zu dokumentieren gilt. Was aber, wenn nichts vorhanden ist, eine Vision, ein Plan, ein Ablauf erzählt werden muss? In diesem Fall bleibt die kreative Illustrationsgrafik, die ebenfalls viel­gestaltig daherkommt, denn die Mittel, Stile und die Technik bestimmen das Aussehen. Heute sind verschiedene Softwares in der Lage, Pixel und Vektoren so zu vereinen, dass im Grunde genommen alles möglich ist.

Der Autor

Ralf Turtschi ist Typograf, polygrafischer Techniker HF und dipl. PR-Berater. Er führt in Adliswil die Agenturtschi, visuelle Kommunikation. Der Verfasser von Büchern, Broschüren und zahlreichen Fachartikeln tritt auch als Referent und Schulungsleiter auf.