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Druckindustrie und Publishing 3.0: Disharmonien in der Zukunftsmusik

In der Berufsbildung weiterzufahren wie bisher wäre eine ‹kollektive Misshandlung› der Jugend»!

Christophe Muth Wer morgens beim Kaffee seine Zeitung liest und dann mit dem Auto zur Arbeit fährt, ist sich kaum bewusst, dass hinter den drei Produkten Auto, Zeitung und Kaffee eine gewaltige industriell erbrachte Produktion mit den entsprechenden vor- oder nachgelagerten Dienstleistungen steht. Der Kaffeepflücker auf der Werbung lächelt mich ja auch so freundlich an, dass ich denke, er sei einzig und allein auf mein und nur mein Wohlergehen konzentriert.

Die Romantik der Werbung wird durch Konzepte wie Individualisierung und Kundenorientierung gestützt. Wir alle glauben gerne ein wenig daran, obwohl wir es besser wissen, und das verstellt uns den Weg zum Verständnis der allgemeinen Gesetze der Globalisierung. Zwei davon kann man wie folgt formulieren:

1) Wir werden alle wirtschaftlichen Aktivitäten verlieren, die den drei folgenden Kriterien entsprechen:
  • Industrielle Grössenordnungen (kritische Masse)
  • Gesichertes Wissen (in Hochschulen lernbar)
  • Formalisiertes Know-how (in einem Qualitätssystem erfassbar)
  • 2) Sobald sich die Standortkosten (Arbeitskosten, Umweltauflagen, administrative Umtriebe usw.) international angeglichen haben, findet eine Deglobalisierung mit einer möglichen Rückkehr von Aktivitäten in die Ursprungsländer statt.

    Das bedeutet in der Druckindustrie, dass heute nicht nur Grossauflagen abwandern, sondern wie in allen anderen Branchen die gesamte industrielle Substanz zu verschwinden droht.

    Gegenströmungen und Auswege

    Wer sich diesen Gesetzen mit Biss widersetzen will, ist jedoch nicht ganz hilflos. Es gibt durchaus Wege zu lokalem Erfolg, zur Rettung industrieller Infrastrukturen und des entsprechenden Wissens:

    1) Den Wettlauf der Investitionen gewinnen: Geld ist in aufstrebenden Ländern erheblich viel teurer als bei uns; und ab einer gewissen Grösse mit hohem technologischem Vorsprung fallen Arbeitskosten kaum noch ins Gewicht. Allerdings wird die Hürde der kritischen Grösse immer höher. Das ist also nur etwas für mutige und kapitalkräftige «big and global players».

    2) Nischen systematisch bearbeiten und entwickeln: Diese Binsenwahrheit sollte aber nicht einfach zum Weitermachen wie bisher führen; eine Marktnische ist nicht das Gleiche wie ein kleiner Lokalmarkt. Sie muss mehrere Alleinstellungsmerkmale sowie Abschreckungen gegen Nachahmer ausweisen.

    3) Nachhaltigkeit und Ökologie sind absolut in, und damit auch die Thematisierung des durch den Transport verursachten Energieaufwands. Längerfristig können solche Betrachtungen zu einer teilweisen Deglobalisierung führen. In der Tat macht es wenig Sinn, zuerst das Papier aus Finnland nach China zu schiffen, um nachher die fertigen Druckprodukte zurückzuführen. Ein solches Geschäft beinhaltet einfach etliche tausende Kilometer zu viel. Die Unternehmen müssen jedoch ernsthaft an das Thema der Nachhaltigkeit herangehen, denn das schlichte Einkaufen von Zertifikaten ohne im eigenen Unternehmen die Hausaufgaben zu machen, kommt beim Publikum als Zynismus in Reinform an.

    Zukunftsfähige Entwicklungen

    Weitere Chancen entstehen durch die Schaffung schlagkräftiger regionaler Leistungsnetzwerke, in denen die Orientierung auf umfassende Kundenbedürfnisse im Zentrum steht. Die IT-mässige Standardisierung (Publishing 3.0) von Druckformaten und Maschinensteuerung lässt die handwerklichen Fähigkeiten einer Druckerei zunehmend in den Hintergrund treten.

    Daraus ergibt sich die Möglichkeit einer Reduktion der gesamten Druckleistung auf relativ wenige, regionale Druckzentren, deren Leistungen von Dienstleistern abgerufen werden, die ihren Kunden ein globales und umfassendes Projektmanagement bieten. Die rasch vorrückende Digitalisierung und Standardisierung von Prozessen und Qualitätsmerkmalen, neue Drucktechnologien für kleine Auflagen (Kurzfarbwerke), sowie der Verkauf über Internet führen zwangsläufig dorthin. Wie lange diese Reise dauert, weiss niemand. Auf dem Weg ergeben sich jedoch etliche Chancen für kleine Gruppen von Unternehmern, die es menschlich miteinander können und die als «early movers» die Zukunft gestalten wollen, wie es gerade von der NS-Group und der Druckerei Feldegg AG vorgemacht wird.

    Grund- und Weiterbildung

    Die nachfolgende Generation sollte auf diese Umbrüche vorbereitet werden; in der Grund- und Weiterbildung dürfen wir nicht einfach so tun, als würde in den nächsten zehn Jahren alles beim Alten bleiben. Zugegeben, es wäre anmassend vorzugeben, man habe Antworten auf die auftretenden Fragen, denn sie sind alles andere als einfach. Weiterzufahren wie bisher wäre jedoch eine «kollektive Misshandlung» der Jugend.