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Faszinierende Schrift-Bilder

Wenn Schrift zum Bild und Bild zur Schrift wird, ist man im Land der Schriftenmaler angekommen, in Guatemala.

Ralf Turtschi Es gibt ihn noch. Den Gegenentwurf zu unseren Städten mit ihren gläsernen Fassaden im normierten Einheitslook. Es ist Mitte Januar, ich bin als Reisender in eine Stadt mit dem unaussprechlichen Namen Quetzaltenango geraten. Von Einheimischen wie Touristen liebevoll Xela genannt, geniesst sie die launige Wärme des ewigen Frühlings. Kunterbunte Häuser ohne erkennbare Bauvorschriften, organisch gewachsen und zerfallen, morbider Charme, gepflasterte Strassen, Autos ohne Katalysatoren, geschmuggeltes Benzin, Leben an der Grenze zwischen Armut und Moderne.

Hier ist der Digitaldruck mit Megapostering noch nicht angekommen. «Gestalter/-in Werbetechnik EFZ» wie bei uns ist höchstens eine ferne Zukunftsvision für Kinderköpfe.

Die Marke der «blauen» Telefongesellschaft Tigo lächelt von jeder Stras­senecke, perfekt handgemalt von Künstlern mit dem flüssigen Strich.

Was die Digitalisierung der Schrift an Präzision hervorbringt, an Glattheit und wiederholten Formen, wird einem erst bewusst, wenn man mit dem radikalen Gegenteil konfrontiert wird, der Handmalerei in der Typografie. Kalligrafie pur, zum Teil übermalt und abgebröckelt, jeder Buchstabe ein künstlerisches Unikat. Eigelb, Indigo, Orange, Violett, Grün und Ocker, Konturen und unausgeglichene Versalbuchstaben, Rundsatz und Verläufe. Ich bin des Spanischen nicht mächtig, es ist mir egal, was mir die Wände sagen möchten. Ich bin taub und stumm, mein Sinn von Formen und Farben reichlich gesättigt.

Hier ist nicht Retro, sondern die Zeit stehen geblieben. Nur die Jungen sind dem Handy erlegen, in durchlöcherten Jeans hängen sie herum, während die Frauen traditionell in bunt gewobenes Tuch gekleidet sind.

Guatemala kommt nicht von «gute Maler», was aber glaubwürdig wäre. Das Land der Farben und bunten Märkte ist für Sehende eine lohnende Reise wert. Publisher-Autor An­dreas Burkard hat den Trip für uns zwei geplant und organisiert. Ohne seine grosse Lateinamerika-Erfahrung wäre ich hier wohl für alle Ewigkeit gefangen. Etwas Ähnliches wie unseren Taktfahrplan gibts hier nicht. Im Busbahnhof wird eine Reise ausgerufen, die abenteuerlichen amerikanischen Schulbusse erleben wir lieber von aussen – auch sie eine farbige Augenweide.

Ziemlich ab vom Massentourismus bereisen wir das warme und trockene Hochland Guatemalas: Guatemala City, Antigua, Lago de Atitlán, Panajachel, Chichicastenango und Quetzaltenango. Die Distanzen sind klein, es bleibt viel Zeit für Erkundungstouren und Vulkantrekking. Auf drei- bis viertausend Metern Höhe ist eine gute Kondition angesagt, die farbigen Eindrücke verblassen im schwarzen Sand, jedes Kilo zu viel an Ausrüstung wird verflucht. Drei Tage, nachdem wir uns den Vulkan Pacaya vorgenommen haben, spuckt dieser einen riesigen Lavastrom aus, eine Woche später erleben wir frühmorgens am Fuss des grollenden Santiaguito ein Erdbeben der Stärke 5,7. Unsere Welt endet hier nicht, sie beginnt.

Der Autor

Ralf Turtschi ist gelernter Schriftsetzer, Buchautor und passionierter Hobbyfotograf. Er ist Inhaber von Agenturtschi, visuelle Kommunikation, in Adliswil und schreibt im Publisher seit Jahren praxisbezogene Beiträge zu Themen rund um Desktop-Publishing. E-Mail: turtschi@agenturtschi.ch