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Fonts ausmisten!

Obwohl sich das Alphabet mit 26 Zeichen über die Jahrhunderte kaum veränderte, ist der Drang, Schriften zu gestalten, ungebrochen. Zeit, die Klassiker in die Vitrine zu stellen.

RALF TURTSCHI Als Kulturgut ist die Schrift immer auch Zeitzeuge, wie dies Höhlenmalereien oder die ersten Schwarz-Weiss-Fotografien sind. Die Gutenberg-Bibel, die ersten Inkunabeln, die ersten Zeitungen, Anzeigen um 1900 – Schrift und Drucktechniküberliefern die Geschichte der Menschheit und sind Zeuge von Schönheitsidealen ihrer Zeit. Bezüglich Drucktechnik brauchen wir gerade mal500 Jahre zurückzuschauen und neh­men erstaunt zur Kenntnis, dass sich die Urformen der Buchstaben seit damals kaum verändert haben. 1470 wurde die Schrift Jenson geschaffen, 1495 die Bembo, 1530 die Garamond. Der Klassizismus um 1800 brachte die Didot, die Bodoni und die Walbaum hervor, und es dauerte nochmals rund 100 Jahre, bis die erste Serifenlose, die Akzidenz-Grotesk, sich aufmachte, die Welt zu erobern. Die Schriftentwicklung folgte den Stil­epochen, die damals von den kulturellen Zentren Europas geprägt wurden. Die Reproduzierfähigkeit von Schriften war immer auch an die drucktechnischen Möglichkeiten wie Buchdruck oder Li­thografie gebunden, was heute durch digitale Übertragungsmethoden entfällt. Im Lauf der Jahre sammeln sich immer mehr Fonts auf den Servern und es wird niemand die einmal erstandenen Ressourcen wegschmeis­sen. Es ist wie beim Büchersammeln. Man besitzt sie, sie verstauben erst im Regal, dann in einer Wellpappebox im Keller, zu spät landen sie auf dem Müll. Fonts sind noch klebriger, sie sind praktisch nicht mehr aus dem Desktop wegzukriegen. Doch Hand aufs Herz: Wer einen Font zwei Jahre nicht mehr gebraucht hat, der kann ihn doch ruhig ins Archiv auslagern, oder?

Variabilität der Formen

Blenden wir zurück zur Akzidenz-Grotesk, zur «Mutter der Groteskschriften». Sie muss damals als Affront gegenüber allem Bekannten empfunden worden sein. Gleichmässige Striche, geometrisch konstruiert, weg vom manuellen Federzug. Weitere Serifenlose wie die Franklin-Gothic (1903) folgten. Die Futura (1927) war ein Kind des Bauhauses, die ersten Formen floppten, weil Minimalismus in der Schrift nicht gleich wie in der Architektur funktio­nierte. Erst eine überarbeitete, normalere Variante fand den bis heute andauernden Erfolg. 1928 kam die Gill heraus, die eine völlig neue Geometrie der Buchstaben zeigte, konstruiert zwar, aber doch mit starken Strichstär­keunterschieden. 1931 machte eine weitere Schrift Furore, die Times, die bisheute im Umlauf ist. 1957 zeichnete Max Miedinger die Helvetica und Ad-rian Frutiger die Univers. Während dieHelvetica rückwärtsgerichtet eine mo­dernisierte Akzidenz-Grotesk darstellte, war die Univers von ganz anderem Kaliber. Zum ersten Mal wurden Schriftschnitte systematisch mit Nummern versehen und ein ganzes Schriftsystem geschaffen. Auch der Schriftcharakter war unvergleichlich moderner als jener der Helvetica. Die Schweizer Typografie mit minimalen Formen, Asymmetrie und starken Kontrasten stand in der Blüte. 1976 hat die Frutiger wiederum einen Markstein gesetzt: Für die Beschriftung des Pariser Flughafens Roissy konzipiert, war die Leserlichkeit auf Distanz von grosser Bedeutung. Die Frutiger hat offene Innenräume, und runde Buchstaben wie e oder a waren mehr geöffnet. Noch immer jedoch folgten die De­signer den Grundfomen Kreis, Quadrat, Dreieck, um neue Zeichen zu gestalten. In den ­80er-Jahren kamen die ersten Schriften heraus, die schmaler geschnitten waren, etwas eckiger und kantiger, so wie es ebenfalls im Autobau zu beobachten war (VW Golf, Audi 80). Dazu wurde mit Schriften experimentiert, was das Zeug hielt. Die wilden 90er-Jahre missbrauchten die Typografie zum Betrachten, das Lesen wurde als Nebensache angesehen. Laien wie David Carson setzten die neuen Desktopwerkzeuge hemmungslos ein. Nur eine kleine stilistische Episode, der heute niemand mehr nachtrauert.

Wer den Zeitgeist und die technischen Möglichkeiten von damals mit heutigen Fonts vergleicht, kommt nicht umhin, Antiquiertes von Modernem zuunterscheiden. Zu sehr hat sich die Me­dienwelt verändert, in der wir andere Gewohnheiten des Sehens und Lesens entwickelten, als sie die Leute damals besassen. Und wer möchte heute schon einen alten Röhrenbildschirm auf dem Pult stehen haben, einen «Kastenvolvo» fahren oder eine Frisur wie Doris Day tragen? Die pummeligen Formen von Garamond, Sabon, Baskerville, Helvetica sind einfach retro, Punkt. Aber Schriften von damals werden ohne Scham eingesetzt. Ein Kompliment an die Schriftgestalter? Oder handelt es sich um die hartnäckige Resistenz der Mainstreamgrafiker? Dass Unternehmen wie BMW mit Helvetica innovativ und modern scheinen wollen, ist so schreiend, wie wenn ein Präsident mit weissen Socken zur Pressekonferenz erschiene!

Schriften in der Ausbildung

Die musealen Fontsammlungen halten sich leider in praktisch allen Berufsschulen, die sich bezüglich der Vermittlung des Faches «Schrift» gerne an die altehrwürdige Schriftklassifikation halten, die in einem kulturhistorischen Rückwärtsblick die Schriften so wie die Malerei ordnet. Bei der Schriftsuche ist eine Reihe von Kriterien wichtig:

  • Leserlichkeit
  • Anmutung, Zurichtung
  • Ausbau in Stärken, Breiten, Lagen
  • Office- und Bildschirmversion
  • Character-Set
  • Hinting
  • Fontformat
  • OpenType-Features

Diese wichtigen Entscheidungskriterien werden nicht thematisiert und systematisch angegangen, dabei wäre dies eine einfache und typische Datenbankaufgabe, im Internet selektierbar und abrufbar.

Stattdessen bringen die Zürcher Hochschule der Künste Zürich und die Berufsschule für Gestaltung Zürich einen «neuen» gedruckten Schriftenfächer, in einer netten Verpackung, der 180 Fonts in einen geschichtlichen Zusammenhang stellt und sie vergleichbar macht (www.schriftenfaecher.ch). 180 Fonts? Im Schulbetrieb für lernende Polygrafen mag das gehen, der Anspruch der Praxis ist, mit Verlaub gesagt, doch etwas höher. Man erhält hier den Eindruck, dass die Schulen Schrift als museales Fach historisch-formal vermitteln und dabei übersehen, welche Forderungen die Praxis an die Schrift stellt. Es sind mit Sicherheit keine historischen Argumente dabei und das Formale verpufft, wenn einfach Unterschiede herausgeschält werden, ohne zu hinterfragen, wie mit dem Formenreichtum in der Praxis umgegangen wird. Zum Beispiel: Welches sind die Kriterien, die eine Zeitungsschrift erfüllen muss?

Radikal misten

Die Schriftklassifikation in Ehren, doch diese Einteilung war noch nie praxis­tauglich. Genauso wenig, wie Schriftenbücher, die nach Merkmalen wie Serifen eingeteilt sind. Wer eine bestimmte Schrift einsetzen will, sucht nicht im Kapitel 18. oder 19. Jahrhundert nach etwas Passendem. Man muss sich auch überlegen, wie man Schriften auf dem Desktop verwaltet: alphabetisch, nach Jahrringen, nach Ausbaustandard, nach Fontformat? Eine solche Matrix zu entwickeln und die Schrifen multidimensional selektierbar zu machen, wäre eine Herausforderung für die Lehrerschaft und würde erst noch eine professionellere Ausbildung mit einem vertieften Schriftverständnis ermöglichen.

Bis zum möglichen Erscheinen einer solchen Datenbank empfehle ich, Schriften, die älter als von 1990 sind, auf die Reservebank zu verschieben. Dies gilt auch für Aufgewärmtes, wie das Neuauflegen von alten Damen wie Palatino, Syntax, Frutiger usw. Es liegt auch an den Schulen in der Grundbildung und der Weiterbildung, dass das Kulturgut Schrift modern und praxistauglich weitergegeben wird. Wer sonst als Grafiker, Polygrafen, Schriftgestalter soll sich mit einem professionellen Einsatz von Schrift in Szene setzen? Wenn Schulinstitutionen aber weiterhin den Schriften Helvetica, Akzidenz-Grotesk, Franklin Gothic & Co. in Ewigkeit huldigen, dann sehe ich für die Ausgebildeten wenig Chancen, sich im Markt zu behaupten.

Es gibt nun zwei Möglichkeiten: Wir Gestalter fahren so weiter wie bisher, also konservativ-geschichtlich ausgerichtet, und gestalten Designs fürs iPad in der Times und der Arial. Oder wir kümmern uns vermehrt um Schriften, die neueren Zuschnitts sind: Absara, Capitolium, Clan, Collis, Cordale, Corpid, Dax, Fago, Floris, Gulliver, Interface, Meta, Officina, Paradox, PMN Caecilia, Sanuk, Swift, Thesis, Unit, Vesta, Zwo u. a. m.