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Gibt es sie noch, die Schweizer Typografie?

An der ersten Tÿpo St. Gallen haben sich internationale Schriftgestalter mit der typischen Schweizer Typografie auseinandergesetzt. Wie diese entstanden ist und wo sie uns hinführen mag, diskutierten wir mit Jost Hochuli und Roland Stieger.

isabelle codoni Mit merklichem Stolz eröffnete Monica Sittaro, Prorektorin des Gewerblichen Berufs- und Weiterbildungszentrums St. Gallen (GBS St. Gallen), das erste Typografie-Symposium, welches vom 18. bis 20. November 2011 am GBS St. Gallen stattgefunden und sich mit dem Thema der typischen Schweizer Typografie auseinandergesetzt hat. Als Ort guter Typografie und Buchgestaltung war St. Gallen die passende Stadt für ein Treffen renommierter Schriftgestalter und das GBS St. Gallen mit der Schule für Gestaltung der optimale Organisator für einen gelungenen Anlass.

Grosse Bewunderung

Die Tÿpo St. Gallen hat denn auch grosse Aufmerksamkeit auf sich gezogen: Rund 320 Teilnehmerinnen und Teilnehmer wohnten dem dreitägigen Kongress bei und haben die Referate der 13 Typografie-Koryphäen aufmerksam mitverfolgt. Neben dem Buchgestalter und Typografen Jost Hochuli waren weitere bekannte Namen wie Bruno Monguzzi, Gerrit Noordzij, Ralph Schraivogel oder Tina Roth Eisenberg, auch bekannt als swissmiss, vor Ort. Den Referenten wurde hohe Bewunderung zuteil – neben ausgedehntem Applaudieren wurden den gestandenen Meistern der Schriftkundigen gar Standing Ovations gezollt.

Typisch Schweiz

Und was ist nun typisch an der Schweizer Typografie? Martin Tiefenthaler, Grafiker, Theoretiker und Mitbegründer der Typografischen Gesellschaft Austria, konstatierte in seinem Beitrag, dass es typisch schweizerisch sei, diese Frage überhaupt zu stellen. Im Rahmen der Tÿpo St. Gallen war auch das deutsche Forum Typografie anlässlich seines 25. Bundestreffens zu Gast in der Schweiz. So beantwortete Andreas Maxbauer, Vorstand Forum Typografie Deutschland, die Frage folgendermassen: «Schweizer Typografie ist vor allem ein Gattungsbegriff. Die Gattung, bei welcher die grösste Ornamentik die Hinzunahme einer zweiten Farbe bedeutet.»

Wir haben den St. Galler Designer Jost Hochuli zusammen mit Roland Stieger, Typografischem Gestalter und Mitinhaber von TGG Hafen Senn Stieger, in seinem Atelier in St. Gallen besucht und wollten insbesondere vom Doyen der St. Galler Typografie wissen, was die typische Schweizer Typografie ausmacht. Schliesslich war sein inspirierender Vortrag in Berlin für die Organisatoren auch der Auslöser für das Thema der ersten Tÿpo St. Gallen. Nicht zuletzt machen seine Biografie und seine Erfahrungen Hochuli zu einem wertvollen Zeugen der Phase der typischen Schweizer Typografie in den 50er- und 60er-Jahren.

Eine prägende Figur: Tschichold

Woher kommt der Begriff der Schweizer Typografie und wann ist diese entstanden? Hochuli erzählt uns eingangs von der ersten Ausstellung des Bauhauses in Weimar, welche den Typografen Jan Tschichold bei einem Besuch im Jahre 1923 zu einer Hinwendung zu den neuen Ideen und schliesslich zu seinem 1928 erschienenen Werk «Die neue Typografie» angeregt hatte. Damit wurde Tschichold zu einer prägenden Figur in der Gestaltungswelt, hatte doch seine bekannte Publikation in der damaligen typografischen Szene hohe Wellen geschlagen. Von Plakaten über Inserate und Prospekte bis hin zu Büchern – sofern Letztere keine wissenschaftlichen oder belletristischen Erzeugnisse waren –, sämtliche typografischen Arbeiten wurden von der neuen und modernen Ideologie beeinflusst. Im Gegensatz zu seinem ursprünglich klassischen Leipziger Hintergrund und damit einer mittelaxialen Anordnung propagierte er einen ganz neuen Geist. Sein Bestreben, die Schemata herkömmlicher Typografie aufzubrechen und zu vereinfachen, zeigte sich in einer neuen asymmetrischen Anordnung und in möglichst serifenlosen Schriften.

Vom Saulus zum Paulus

Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung und der Zerschlagung des Bauhauses im Jahre 1933 emigrierte Tschichold von Deutschland in die Schweiz nach Basel. Damit fand die «Neue Typografie» in Deutschland ein jähes Ende. Während seiner Zeit beim Benno Schwabe Verlag konzentrierte er sich dann vorwiegend auf die Gestaltung von Belletristik, womit er wieder einen traditionalistischeren Weg einschlug und wiederum die klassische, mittelaxiale Typografie aufgriff. Mit dieser radikalen Abwendung von seinem ursprünglichen Schaffen wurde er laut Hochuli gar als «Verräter an der Moderne» bezeichnet. Der Schweizer Architekt und Designer Max Bill, der Tschichold persönlich kannte, war so enttäuscht über diese Umkehrung, dass sich die Gestalter 1946 publizistisch in die Haare gerieten und ihre Kontroversen öffentlich in den «SGM» («Schweizer Graphische Mitteilungen») austrugen. Die Frage der asymmetrischen Anordnung oder der Mittelaxe in der Typografie wurde damit zum Glaubenskrieg. Viel später habe man die beiden in Tschicholds Garten in Berzona aber wieder bei einem versöhnlichen Glas Wein beobachten können, so Hochuli mit einem Augenzwinkern.

Die Schweizer Typografie

Die Schweizer Typografie baute in den 30er-, 40er- und 50er-Jahren auf der «Neuen Typografie» auf. Während dieser Zeit konnte sich eine Ideologie weiterentwickeln, die in Deutschland während der Naziherrschaft abgebrochen worden war. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges ist das moderne Denken in der Typografie wieder aufgeblüht. Grössen wie Max Bill, Hans Neuenburg, Carlo Vivarelli oder später Josef Müller-Brockmann hatten einen strengen, nüchternen Stil geschaffen, der vom Ausland bewundert wurde. Der Begriff der «Schweizer Typografie» wurde damit durch ausländische Designer und Typografen definiert, die mit Anerkennung auf das Schaffen der Schweizer Gestalter schauten. Kennzeichnend für die so entstandene Schweizer Typografie waren streng sachliche Darstellungen sowie Asymmetrie und die Verwendung von Groteskschriften in möglichst wenigen Schriftgraden. Ebenso richtungsweisend waren ausgeprägte Weissräume und der Verzicht auf Schmuckelemente.

Karl Gerstner, ein Schweizer Grafikdesigner und bedeutender Vertreter der Schweizer Typografie, hat in den 60er-Jahren einmal gesagt: «Man weiss heute, wie man Schweizer Typografie macht.» Mit diesen Worten zeigte er unmissverständlich auf, dass die einfache Art der Schweizer Typografie ein Rezept ist, das man ganz gut nachkochen konnte, erzählt uns Hochuli und fügt lachend hinzu: «Man nehme eine Serifenlose, setze asymmetrisch, mache einen Flattersatz und stelle alles in einer Fläche in eine Ecke – dann haben wir Schweizer Typografie.»

Die schlichte Gestaltung der Schweizer Typografie wirkt bis heute in die anspruchsvolle Typografie hinein. Denn auf die Frage, ob es auch heute noch eine Schweizer Typografie gebe, antwortet Hochuli: «Im Grunde genommen laufen wir noch immer in dieser Richtung, allerdings mit den Manierismen, hinter denen man die Schweizer Typografie kaum mehr erkennt. Bei einigen Gestaltern ist sie deutlicher, bei anderen weniger deutlich zu bemerken.» Dennoch war Hochuli schon immer klar, dass es neben der Schweizer Typografie auch andere Möglichkeiten gibt. Für wissenschaftliche Werke zum Beispiel hat die Schweizer Typografie kein Vorbild geliefert.

Der Einfluss Hostettlers

Viel geleistet für die Verbreitung der Schweizer Typografie im Ausland hat Rudolf Hostettler, der 1943 bis 1981 als künstlerischer Leiter bei der Druckerei Zollikofer in St. Gallen gearbeitet hat. 30 Jahre lang betätigte er sich auch als Hauptredaktor der «Typografischen Monatsblätter» und prägte diese Publikation massgeblich. 1949 publizierte Hostettler sein wohl bekanntestes Werk «The printer’s terms», ein Fach- und Fachwörterbuch und grundlegendes typografisches Hilfsmittel. Daneben hat er ebenso das «St. Galler Tagblatt» sowie weitere Zeitschriften und Bücher, die bei der Druckerei Zol­li­kofer gesetzt und gedruckt wurden, gestaltet.

Hochuli absolvierte 1955 bis 1958 in der Druckerei Zollikofer eine Setzerlehre, wo er auch Rudolf Hostettler kennen und als Freund und Mentor schätzen lernte. «Es war die grosse Zeit der Schweizer Typografie», schreibt Hochuli in seinem soeben erschienenen Büchlein «Das ABC eines Typografen» (12. Edition Ostschweiz der VGS-Verlagsgemeinschaft). Und während des Gesprächs erzählt er uns, dass er Hostettler lange für einen unbedingten Gefolgsmann der dogmatischen Schweizer Typografie gehalten hatte. So war er damals nicht wenig erstaunt, als Hostettler ihm offenbarte, dass er neben der modernen Typografie auch die konservativen, mittelaxialen Arbeiten von Tschichold hoch schätze.

Ein schweizerisches Unikum

Hostettlers Idee war es auch, eine berufsbegleitende Weiterbildung zum «Typografischen Gestalter» einzuführen. Denn als in den Druckereien während der 60er- und 70er-Jahre die Bleisetzmaschinen langsam durch die Fotosatzmaschinen ersetzt wurden, wuchs auch das Bedürfnis nach besser ausgebildeten Schriftsetzern. Viele Details, die einstmals Aufgabe der Schriftgiessereien gewesen waren, wurden mit der neuen Technik Sache des Typografen. Eine Weiterbildungsmöglichkeit für die Schriftsetzer zu haben, erachtete Hostettler deshalb als elementar.

Ab 1980 wurde in Basel, Lausanne, Bern, Aarau, Zürich und nicht zuletzt in St. Gallen sodann der Lehrgang «Typografischer Gestalter» eingerichtet. Gemäss Roland Stieger – der zusammen mit Peter Renn den Lehrgang an der Schule für Gestaltung des GBS St. Gallen leitet – ist die Weiterbildung «Typografischer Gestalter» ein Schweizer Unikum. Eine Besonderheit, die in keinem anderen Land auf diese Weise angeboten wird. Wichtig zu erwähnen ist ferner, dass der Typografische Gestalter in der höheren Berufsbildung angesiedelt ist und mit dem eidgenössischen Fachausweis abschliesst.

Zukunftsaussichten

Mit der Tÿpo St. Gallen konnte an der Schule für Gestaltung des GBS St. Gallen ein wichtiger und inspirierender Austausch stattfinden. Die Schule hat aufgezeigt, dass auf dem Gebiet der Typografie vieles in Bewegung ist. War Typografie vor wenigen Jahrzehnten noch Teil des Fachwissens der Drucker und Schriftsetzer, so ist sie heute ein wichtiger Bestandteil der Ausbildung von Grafikern und Mediengestaltern. Gerade die neuen Medien, der schnelle technische Wandel und die enormen Informationsmengen stellen die Gestalter vor neue Herausforderungen. So erwähnt Roland Stieger, dass es beispielsweise im Bereich der E-Books und im E-Publishing Fachleute braucht, die wissen, wie man Informationsmengen richtig portioniert, und die wissen, wie man die Leser führt, sodass sie dranbleiben und nicht wegklicken. Denn speziell die neuen Medien müssen mühelos lesbar sein. Es geht darum, die Balance zu finden, durch eine überraschende Gestaltung die Aufmerksamkeit zu gewinnen und auf der andern Seite die Information trotzdem bequem lesbar zur Verfügung zu stellen.

«Interessant ist es, zu beobachten, wie die Entwicklung weitergeht», meint Hochuli gegen Ende unseres Gesprächs. «Ich warte auf dem Gebiet der Typografie auf eine gewisse Gegenbewegung. Wenn die typografische Form zu dominant wird, zu sehr vor dem Inhalt steht, so wird es eine Rückbesinnung geben. Sie wird in formaler Hinsicht vielfältig sein, doch wird die ursprüngliche Aufgabe der Typografie, das Vermitteln eines Textes, wieder im Vordergrund stehen.»