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In memoriam des Syntax-Gestalters

Am 15. Juli ist der Schweizer Schriftkünstler Hans Eduard Meier in seinem 91. Altersjahr verstorben. Der Grafiker, Pädagoge, Schriftgestalter, Kalligraf und Autor machte sich mit seiner serifenlosen Schrift «Syntax Antiqua» international einen Namen.

ERICH ALB Skifahren, Bootsbau und Segeln gehören zu den Freizeitbeschäftigungen des jugendlichen Hans Eduard Meier (HEM), vor allem aber Malen und Zeichnen. Einen Farbkasten baut er sich selbst. Unermüdlich zeichnet er auch Buchstaben mit Feder und Pinsel; in der Stube spielt die Mutter Klavier und singt dazu. Sie hat nicht viel Zeit für Hansli. Die energisch anpackende Frau muss nebenbei noch den sehr grossen Garten pflegen. Ihr Mann kommt abends spät nach Hause. Als Kaufmann und Vizedirektor ist er sehr beschäftigt, kann sich deshalb auch wenig seinen beiden Kindern widmen.

Später verbringt HEM viel Zeit damit, Segelflugmodelle zu bauen. Sein Berufswunsch ist, Flugkonstrukteur zu werden, und dazu hat er sich bereits für eine technische Lehre angemeldet. Der Freund seines Vaters, ein Druckereiinhaber, überredet Hans aber zu einem anderen Beruf. Des Lobes voll für die zeichnerischen Fähigkeiten, rät ihm der Prinzipal, eine Lehre als Schriftsetzer zu absolvieren. Dort muss Hans aber sowohl den Ausläufer spielen als auch am Samstag die Setzerei wischen. Im dritten Lehrjahr kann er in der vorbereitenden Klasse der Kunstgewerbeschule Zürich Kurse in Zeichnen und Malen besuchen.

Nach der Rekrutenschule geht Hans Meier an die Kunstgewerbeschule Zürich. Dort stösst er auf den universellen Lehrer Alfred Willimann, welcher im Vorkurs das Fach Schriftkunde unterrichtet und in der Fotoklasse bei Alfred Finsler «Schrift mit Fotografie» lehrt. Hans Meier möchte sich für die Schrift spezialisieren. Für ihn gilt, den hochverehrten Lehrern Willimann und Käch nachzueifern. Schrift und Kalligrafie sind der neue grosse Antrieb von Meier, der sein Hobby Segelfliegen nach einem Beinaheunfall beendet. Nun ist er verbissen nur noch mit Breitfeder, Pinsel, Tusche und Papier beschäftigt: mit dem Zeichnen einer gotischen Schrift und Schriften des Mittelalters. So prägt er sich langsam die Formen im Kopf ein.

Lehrer an der Schule für Gestaltung und Fachautor

Im Jahre 1948 geht HEM nach Paris. 1949 arbeitet Hans Meier im Atelier der UNESCO. Generell gefällt es ihm aber nicht, und mit dem Französisch hat er Mühe. Wie gerufen kommt ein Brief von Alfred Willimann: Er möchte Hans Meier als Lehrer für Schrift an die Kunstgewerbeschule Zürich holen. Von 1950 bis 1986 unterrichtet fortan «Schriften-Meier» an der Schule für Gestaltung in Zürich (heute nennt sich die Schule Zürcher Hochschule der Künste).

«Der Schriftunterricht ist meist nicht besonders beliebt. Es ist auch tatsächlich schwierig, eine gute Schriftform zu zeichnen … Zuallererst beginne ich, die Gesetzmässigkeit der römischen Kapitalschrift zu erklären, welche Vorbild für die ersten Druckschriften war und deren klare, einfache Formen und Proportionen auch heute noch unübertroffen sind. An Beispielen erkläre ich die Entstehung der Druckschriften und ihre Formwandlungen im Laufe der Jahrhunderte, also seit der Renaissance bis in unsere Zeit», schreibt Hans Meier 1992 in den «Typografischen Monatsblättern».

Neben der Schule hat HEM Zeit für eigene Arbeiten für Industrie, Verlage sowie Plakatentwürfe für kulturelle Veranstaltungen. 1959 erscheint bei der Graphis Press, Zürich, das dreisprachige Lehrheft «Die Schriftentwicklung», das als Standardwerk weltweite Verbreitung findet. 1994 erscheint eine Neuausgabe als elfte Auflage bei Syntax Press in Cham.

Meiers erste Schrift – und wenig wirtschaftlicher Erfolg

Erste Skizzen einer serifenlosen Schrift zeichnet HEM Ende 1954 – und in Paris zeichnet Adrian Frutiger seine Univers. Keiner der beiden weiss von der Arbeit des andern, die auf völlig verschiedenen Fundamenten aufbaut.

Meier will beweisen, dass eine serifenlose Schrift gleich gut lesbar ist wie eine mit Serifen. Gleichmässige Strichstärken, betonte Mittellängen, Kleinbuchstaben, die teils die Versalhöhe überragen, sowie eine leichte Rechtsneigung um 1 Grad ergeben das harmonische Bild mit humanistischem Charakter. Die Schrift ist die moderne Umsetzung der Renaissance-Antiqua.

Die Entstehungsgeschichte der Syntax Antiqua dauert endlos: Nach zehn Jahren kann HEM die Reinzeichnungen der Schrift in Normal, Kursiv und Halbfett vorlegen. Und nochmals braucht es vier Jahre, bis endlich eine Schriftgiesserei den Mut hat, diese Schrift herzustellen: Die D. Stempel AG in Frankfurt am Main produziert die Syntax Antiqua von 1968 bis 1972. Sie ist die letzte Schrift im Bleisatz dieses traditionellen Unternehmens.

Der technische Wandel zum Fotosatz steht bevor, in den Bleisatz wird kaum mehr investiert. So wird denn die Syntax wenig verkauft, und nach 25 Jahren läuft der Lizenzvertrag ab. Immerhin aber erhält die Schrift im Jahr 1972 eine Anerkennungsmedaille an der Biennale für Gebrauchsgrafik in Brünn.

Vortragsreise durch die USA – Arbeit an der ETH

1978 wird HEM eingeladen, über seine Lehrtätigkeit und seine Schrift in Providence, Portland, Los Angeles und San Francisco Vorträge zu halten. Charles Bigelow, Berater für Schriftgestaltung am Computer an der Stanford University, vermittelt Meier 1984 ans Institut für Computersysteme an der ETH Zürich. Mithilfe des Computers gestaltet nun Hans Meier als Erster in der Schweiz Schriften direkt am Bildschirm. Es entstehen die Schriften Barbedor und ITC Syndor, Letztere wurde bei der ITC in New York vertrieben. Beide Schriften haben das Grundmuster der Renaissance-Schrift.

1991 reist HEM nochmals in die USA und dann nach Kanada: Er hält Vorträge über seine Schriftgestaltung am Computer in Boston und Montreal.

Schon lange hegt Meier den Wunsch, eine «Briefschrift» zu entwerfen. Briefe in Times und in Helvetica kursiv zu setzen, ist nicht geeignet und wirkt wie ein Prospekt. Daneben sind die sich im Vormarsch befindenden Script-Schriften zu «schön». 1992 zeichnet HEM an der ETH die Syntax Letter, die später zu einer Schriftfamilie ausgebaut wird.

Die Dynamik einer in Stein gemeisselten Schrift aus dem 2. Jahrhundert vor Christus lockt Meier, diese 1995 in der ETH am Computer als Druckschrift zu entwerfen. Sie unterscheidet sich wesentlich von den römischen Schriftformen des 1. Jahrhunderts nach Christus, welche bereits nach dem architektonischen Prinzip gestaltet sind. Auch die Syntax Lapidar wird später zu einer Schriftfamilie ausgebaut.

Eine zweite Schriftfamilie, die 1992 entsteht, ist die für die ETH exklusiv entwickelte Oberon in den Schnitten Book, Italic, Bold und Bold Italic. Jahre später, 2006, bietet Meier die Oberon dem Schriftenhaus Elsner+Flake (E+F) an, welche sie, ergänzt mit den Schnitten Medium und Medium Italic, als Oberon Serif herausgibt.

Ausgebaute digitale Schriftsippe

1995 anerbietet sich HEM der Linotype AG, die Erweiterung der Syntax zu übernehmen. Es entstehen sechs aufrechte und sechs kursive Schnitte mit den dazugehörenden Kapitälchen sowie Versal- und Mediävalziffern. Die Fehler von der Blei- und Fotosatzproduktion können ausgebessert werden. Es entsteht eine handwerklich einwandfreie Linotype-Syntax. Sehr rasch wird die Syntax endlich entdeckt und tritt nach 30 Jahren ihren Siegeszug weltweit an.

Im Jahre 2000 wird die Syntax Next realisiert. Diese ausgebaute Schriftsippe, zu der noch die Syntax Serif gezeichnet wird, umfasst zusammen mit der Syntax Lapidar nun 20 Schnitte. Im Wettbewerb des Type Directors Club, New York, wird sie zur herausragendsten Schrift unserer Zeit gekürt.

«Den 50. Geburtstag der Syntax im Jahre 2022 muss Monotype ohne mich feiern, denn dann wäre ich hundert Jahre alt», sagt Hans Meier zum Schreibenden.

Schrift für die Schweizer Banknoten

Der Gestalter Jörg Zintzmeyer darf seine Entwürfe der aktuellen Banknoten für die Schweizerische Nationalbank ausführen. Dazu engagiert er HEM, der einmal wöchentlich in seine Agentur nach Zürich kommt und dort auf dem Ikarus-Programm Ziffern und ein eigenständiges SNB-Alphabet entwirft für den Text auf den Banknoten. Der über 80-Jährige hat die Arbeit gut gemeistert.

Nach 70 Jahren: Ersatz der Schnürlischrift

Seine Mission sei nichts Neues, sagt Hans Meier an seinem 80. Geburtstag: Bereits seit Jahrzehnten stört ihn das verkrampfte Schnörkelschreiben der Schüler in der Unterstufe. Im Jahre 2002 wird HEM von einigen Lehrerinnen angespornt, eine neue Schulschrift zu entwerfen. Zusammen mit Max Schläpfer entwirft er vorerst die Basisschrift. Grotesk oder «Steinschrift» genannt, hat sie keine Bögen und wird in der ersten Primarklasse eingesetzt. Später wird sie in ABC1 umbenannt und in Zusammenarbeit mit Elsner+Flake durch die ABC2 und die ABC4 ergänzt. Der Schriftschnitt ABC3 wird nach den ersten Anwendungsjahren als pädagogisch nicht sinnvoll verworfen. Die ABC2 hat Bogenansätze und wird im zweiten Schuljahr geübt. Die ABC4 ist verbunden geschrieben und wird auch im zweiten Jahr geübt. Alle drei Schriften gibt es aufrecht und kursiv, als Druckfont bei E+F Schriftenvertrieb. Zu diesen Schriften hat Meier Lehrbücher und Übungsblätter gestaltet.

Seit Frühjahr 2012 befasst sich die Deutschschweizer Erziehungskonferenz (D-EDK) mit Fragen der Schulschriften. «Die Basisschrift ist kindergerechter», sagt Christian Amsler, Präsident der D-EDK.

Luzern hat im Jahre 2010 die Basisschrift für verbindlich erklärt, hat allerdings eine etwas eigene, vom Original abweichende Version entwickelt. Die Kantone Basel-Stadt und Bern überlassen es den Schulen, ob Meiers Basisschrift oder die Schnürlischrift geschrieben wird. Die 1947 obligatorisch eingeführte Schnürlischrift wird wohl bald das Ende sehen …

Die letzten Schriftentwürfe

Die ältere Tochter von HEM unterrichtet Handarbeit im Tessin. Sie wünscht sich 2004 von ihrem Vater eine Antiqua-Schrift, welche auf Stoff mit Kreuzchen gestickt werden kann. Die Schrift Gesta enthält elf Quadrate in der Vertikalen und wird als Druckschrift bei E+F in Hamburg vertrieben.

2012 zeichnet HEM für die Offizin Parnassia in Vättis die Firmenschrift Parnassia. Er gestaltet sie nach den früher in Stein gemeisselten Schriften, die Strichendungen sind serifenähnlich. Die Offizin Parnassia graviert Matrizen für die Monotype-Bleisetzmaschine, druckt aber insbesondere Drucksachen und Bücher im Buchdruck. Im November 2013 erscheint in der Edition Parnassia eine Schriftprobe der Parnassia in Form des bibliophilen Büchleins «Von Drachenkindern …».

Die Kapitalis Roman bietet HEM Elsner+Flake im Jahre 2012 an. Sie wird 2013 von Elsner+Flake in Hamburg um drei Schnitte ergänzt. Sie wird einige Wochen vor seinem Hinschied Anfang Juli 2014 fertiggestellt.

In seinem ihm typischen Duktus gestaltet HEM im Jahre 2013 seine letzte Schrift. Sie wird aber nicht vollendet und so unter dem vorgesehenen Namen leider auf dem Markt nie erscheinen: Meier Sans hätte sie geheissen. Neben der Frutiger und der Zapfino würde sie zum Dreigestirn der bedeutendsten Schriftgestalter der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zählen.

Umzug und Ende in Horgen

Das alte Haus am Kerenzerberg in Obstalden, wie ein Adlerhorst am Hang klebend und mit sehr schwierigem Zugang, wird zu kompliziert für das Ehepaar Meier. Insbesondere denken sie 2013 schon bald wieder an den aufwendigen Winter. Schweren Herzens entscheidet sich HEM, mit seiner Frau nach Horgen in eine grosse Wohnung umzuziehen. An seinem Geburtsort fühlt er sich aber rasch wieder wohl, zumal auch sein Sohn mit Familie in unmittelbarer Nähe wohnt.

Einzig vermisst Meier seinen Froschteich in Obstalden, und die Fledermäuse können im Mehrfamilienhaus in Horgen auch nirgends nisten. Am 15. Juli 2014 ist Hans Eduard Meier sanft entschlafen und hinterlässt ein sehr gewichtiges Schriftenwerk. Seine Syntax und die anderen Schriften werden weiterhin weltweit angewendet.

www.fonts4ever.com

www.schulschrift.ch

www.parnassia.org

www.schubi.com («Basisschrift»)

Entworfene Schriften

Hans Eduard Meier schuf von 1955 bis 2013 14 Schriftalphabete. In den vergangenen Jahren war er aber auch mit seiner Basisschrift für die Schweizer Grundschulen in aller Munde (M für Monotype).

Syntax (1968–1972), D. Stempel AGBarbedor (1984), E+F, M, URW+ITC-Syndor (1986), ITC/MOberon (1992), ETH; 2003 E+FSyntax Letter (1992), Monotype Syntax Lapidar Display (1995), MSyntax Lapidar Text (1995), MLinotype Syntax (1997), MSyntax Serif (1999), MSyntax Lapidar-Serif Display (1999), MSyntax Lapidar-Serif Text (2000), MElysa (2002), E+FABC Schulschrift (2002–2008), E+FGesta Antiqua (2004), E+FParnassia (2012), Parnassia VättisMeier Kapitalis (2014), E+F