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Leserlichkeit (I): Schrift

In einer Serie wollen wir uns typografisch dem wichtigsten Zweck der Schrift überhaupt, der Leserlichkeit, nähern. In dieser Ausgabe geht es darum, wie Schrift beschaffen sein soll, damit sie leserlich ist.

Ralf Turtschi Der Begriff Leserlichkeit umfasst zwei unterschiedliche Ansatzpunkte. Zuerst geht es einmal darum, dass Schriftzeichen (Glyphen) überhaupt als solche erkannt werden. In einem weiteren Aspekt wird die Beziehung der Zeichen untereinander betrachtet. Stehen die Zeichen so nah beieinander, dass sie fast verschmelzen? Besteht die Gefahr, dass zwei Glyphen zu einer einzigen Glyphe «mutieren»? Wenn zum Beispiel r und n so beschaffen sind, dass sie beim Überlesen zu m werden, dann besteht die Gefahr des optischen Darüberstolperns.

Wenn sich einzelne Glyphen zum Verwechseln ähnlich sind, entstehen Augenstolperer oder Unsicherheiten in der Kommunikation. Die Ziffer 0 sieht in einigen Schriften fast gleich aus wie der Buchstabe O. Die Differenzierung findet über die Breite und die Strichstärke statt. Die Ziffer 1, das kleine und das grosse i sowie das l haben ebenfalls Verwechslungspotenzial.

Personen mit einer Leseschwäche werden den Schriftdesignern dankbar sein, wenn die Glyphen eindeutig und unverwechselbar gezeichnet sind. In diesem Sinn sind auch die Buchstaben q, d, p und b einer näheren Betrachtung wert. Es hat sich wegen der modernen Werkzeuge in der Schriftgestaltung eine bequeme «Mode» herauskristallisiert, diese vier Zeichen einfach horizontal und vertikal zu spiegeln – damit tut man betroffenen Legasthenikern keinen Gefallen.

Die hier besprochene Leserlichkeit gilt übrigens für Printprodukte gleichermassen wie für das Lesen am Bildschirm. Das uns antrainierte Lesen funktioniert ja nicht in einem Erkennen im Sinn von Buchstabe zu Buchstabe, das Auge scannt in Augensprüngen, den so genannten Sakkaden, ganze Wörter oder Wortgruppen. Für diese Spalte braucht es für geübte Leser vielleicht zwei bis drei Augensprünge pro Zeile.

Lesegeschwindigkeit

Es gibt Leserlichkeitsuntersuchungen, die sind jedoch schon ein, zwei Generationen alt. Dabei geht es nicht um die eigentliche Erkennbarkeit der Glyphen, sondern darum, wie schnell gelesen werden kann. Um das herauszufinden, lässt man Probanden den gleich formatierten Text unter gleichen äusserlichen Bedingungen lesen und stoppt die erreichte Buchstabenzahl nach einer gewissen Zeit. So lässt sich zum Beispiel aufzeigen, ob Schrift A schneller als Schrift B zu lesen ist. Selbstverständlich hat man dabei auf vergleichbare Versuchsanordnungen bei Schriftgrösse, Zeilenabstand und Zeilenbreite zu achten.

Der Begriff Leserlichkeit steht für zwei Funktionen: Zum einen für die Erkennbarkeit der Zeichen, zum anderen für die Geschwindigkeit, mit der zum Beispiel ein Buch gelesen werden kann. Bei der Erkennbarkeit sind eher Plakate, Preise, Flyer oder andere Akzidenzen betroffen, bei der Lesegeschwindigkeit hingegen geht es ausschliesslich um den Grundtext in Zeitungen, Magazinen oder umfangreicheren Office-Dokumenten, mit dem man sich über längere Zeit beschäftigt.

Die Leserlichkeitsuntersuchungen früherer Jahre haben gezeigt, dass die Unterschiede zwischen den einzelnen Schriften gar nicht so gross sind, wie zu vermuten wäre. Ich habe darüber bereits in Publisher 6-10 berichtet. Die Abweichungen der Lesegeschwindigkeit üblicher Textschriften (Grotesk und Antiqua) sind nur 1–4% gross. Auf einer Doppelseite Magazintext mit etwas Bildanteil sind dies etwa 3–4 Zeilen, die bei besserer Leseschrift zusätzlich gelesen werden können. Ich würde es sehr begrüs­sen, wenn Fachhochschulen neuere Forschungen anstellten, die über die Leserlichkeit vor allem auf dem Bildschirm, auf Tablets und Handys Auskunft geben. Vielleicht existieren solche, ich wäre sehr interessiert, davon zu erfahren.

Nebenbemerkung: Texte werden immer automatisierter aufbereitet, sind oft deswegen schlechter leserlich. Mit Bedauern stellt der Typophile fest, dass im Jahr 2014 die Trennprogramme im WWW oder in Apps noch nicht angekommen sind.

Auf den Punkt gebracht könnte man die These aufstellen, dass es nicht matchentscheidend ist, welchen Schrifttyp man für den Lesetext verwendet. Dies entspricht jedoch nicht der typografischen Grundhaltung, alles zu unternehmen, um die bestmögliche Leserlichkeit herauszuholen.

Der nicht optimale Schrifttyp, kombiniert mit nicht optimaler Formatierung, kann durchaus zu einer Ablehnung des Textes aus typografischer Sicht führen. Und wer bei der Schriftwahl einen «Fehlgriff» tut, macht dies vielleicht auch bei anderen typografischen Weichenstellungen, beim Zeilenabstand oder bei der Gliederung des Textes. Wir alle kennen wohl das Unbehagen, wenn Schrift nicht der eigenen Vorstellung von komfortablem Lesen entspricht. Haben wir nicht deshalb schon einen Text verweigert? Die typografische Messlatte muss deshalb hoch angelegt werden.

Zur Beruhigung muss ich allerdings einwenden, dass heutige Texte schon gelesen werden können, vielleicht nicht ganz so optimal. Wenn bei einer Auflage von 50 000 Exemplaren nur 1% der Leser den Text nicht lesen, sind dies immerhin 500 Leser. Und wer möchte heute auf die verzichten?

Guter Lesetext entsteht durch verschiedene Einflussfaktoren, von denen in diesem Teil nur die Schriftart besprochen wird. Schriftschnitt (condensed, extended, kursiv), Grösse, Zeilenlänge, Laufweite, Zeilenabstand, Satzart, Schriftfarbe, Auszeichnung, Mikrotypo-grafie, Gliederung, Hintergrund sind weitere Faktoren, die berücksichtigt werden sollen. Softe Faktoren, auf die man als Gestalter keinen Einfluss hat, wie Fitness, Motivation, Licht, Lesehaltung oder Bewegungen (im Zug, im Auto) spielen natürlich ebenfalls eine wichtige Rolle.

Leseschriften

Welche Schriften soll man für Lauftext nun berücksichtigen? Aus typografischer Erfahrung empfehle ich Schriften, die dem Schriftschnitt Regular oder Book entsprechen. Man beachte dabei, dass es eine erhebliche Anzahl Brillenträger gibt, die, ob kurz- oder weitsichtig, Mühe mit der Schrift haben, vor allem was Grösse und Strichstärke betrifft. Die Schnitte Semi Light, Light oder dünner sind zu wenig kontrastreich, diese würde ich erst ab etwa 10 Punkt und grösser empfehlen. Es spielt keine Rolle, ob man Schriften mit oder ohne Serifen einsetzt, bei beiden Kategorien gibt es gute und schlechte Beispiele. Serifenschriften haben einen Vorteil: Sie benötigen in der Regel weniger Zeilenabstand als serifenlose Schriften und sind deshalb platzsparender. Es lässt sich mehr in der Zeitung unterbringen. Oder ein Buch wird günstiger, weil weniger Seitenumfang entsteht. Solches wird oft auch durch eine zu enge Laufweite oder durch Schmalverziehen erreicht – hinsichtlich Leserlichkeit keine gute Idee. Es gibt einen klaren Zielkonflikt: Mehr Buchstaben im Blatt bei gleicher Textmenge führen zu Verlust an Leserlichkeit. Dabei ist nicht wichtig, was drin steht, sondern was gelesen wird.

Moderne Schriften erfüllen weitgehend die Anforderungen an die Leserlichkeit, sofern bei der Formatierung nicht «gepfuscht» wird. Bei Schriften, die vor den 90er-Jahren herauskamen und seither nicht weiter angepasst wurden, ist dies nicht unbedingt der Fall. Auch nicht bei Schriften, die raubkopiert wurden oder die im Internet frei zur Verfügung gestellt werden. Da fehlen meistens OpenType-Features oder im schlimmsten Fall die bei uns gebräuchlichen Umlaute.

Der Autor

Ralf Turtschi ist gelernter Schriftsetzer, Buchautor und Publizist. Er ist Inhaber von Agenturtschi, visuelle Kommunikation, in Adliswil und schreibt im Publisher seit Jahren praxisbezogene Beiträge zu Themen rund um Desktop-Publishing.

E-Mail: turtschi@agenturtschi.ch