Cover_19-6_gruen_low

Schweizer Fachzeitschrift
für Publishing und Digitaldruck


Dossiers >> Design&Praxis >> Fachartikel >> Leserlichkeit (II): Schriftschnitt und Auszeichnungen

Leserlichkeit (II): Schriftschnitt und Auszeichnungen

Im letzten Publisher war von leserlicher Grundschrift die Rede. Diesmal wenden wir uns dem Schriftschnitt und Auszeichnungen im Zusammenhang mit Leserlichkeit zu.

Ralf Turtschi Der ureigenste Zweck der Schrift ist, dass sie gelesen werden kann. Dies soll bei einer Headline auf einem Plakat von Weitem und möglichst schnell geschehen, in einem Buch- oder Zeitungstext sollen auch Leserinnen und Leser mit Sehschwächen den Text komfortabel und ohne Schwierigkeiten konsumieren können, auch über eine längere Zeitdauer.

Leserlichkeit zu erreichen, hängt von vielen Faktoren ab, auf die ich in dieser Serie zu sprechen komme.

Das bequeme Lesen von Grundschriften hat viel mit Gewohnheiten zu tun. Was wir viel lesen, lesen wir aus Gewohnheit leichter. Es sind heute Schriften ohne und mit Serifen, die beide gleich gut gelesen werden können, sofern sie in der Form nicht allzu stark vom Durchschnitt der gewohnten Schriften abweichen.

Interessant wird es dann, wenn wir von der Regular abweichen und uns fragen, ob denn eine Italic oder eine Bold oder eine Condensed schlechter leserlich ist als die Regular. Untersuchungen haben ergeben, dass die Unterschiede zwischen Regular und Italic oder Bold nicht so gross sind wie allgemein angenommen. In der Praxis sind die Laborbedingungen von wissenschaftlichen Untersuchungen sowieso nur bedingt zu gebrauchen. Wenn man zehn Seiten eines Buches liest, kommt es zu Unterbrechungen und zum Zurückblättern, man liest gerne etwas besonders Schönes zweimal oder versteht wegen eines komplizierten Satzbaus den Sinn nicht auf Anhieb. In einem solchen praktischen Umfeld ist es akademischer Natur, ob man in drei Minuten 1050 Buchstaben des Schriftschnittes Regular und 1010 Buchstaben des Schriftschnittes Bold lesen kann.

Lesen oder nicht lesen

Praktisch ist es bedeutungsvoller, welchen Eindruck die Leserinnen und Leser von der angebotenen Schrift haben, ob es sie gelüstet, die Schrift überhaupt zu lesen, weil sie ihnen unter Umständen zu schmal, zu spitz oder zu klein ist. Bei einem interessanten Thema und bei grosser Betroffenheit quält man sich auch durch eine weniger komfortable Schrift, wie Sie dies hier möglicherweise am eigenen Leib empfinden mögen. Die Leser/-innen, welche sich nicht für Schrift interessieren, wären hier auch nicht am Lesen, wenn die Schrift etwas grösser und komfortabler angeboten würde.

Breite Schriftschnitte werden als Extended bezeichnet. Die sind jedoch als Textschriften nicht so beliebt, weil sie einfach zu viel Platz beanspruchen und in schmalen Spalten zu grosse Löcher im Blocksatz verursachen. Ein Beispiel dafür ist die Verdana, welche vor allem in Websites eingesetzt wurde und die wegen ihrer offenen Binnenräume und kräftigen Zeichnung am Bildschirm gut leserlich ist.

Schmale Schriften im Schriftschnitt Light sind im Grundtext eher mühsam zu lesen, wie dies zum Beispiel bei der Univers Light Condensed der Fall ist. Der Schriftschnitt Light ist bei vielen Schriften, die von Thin bis Fat linear skaliert wurden, zu dünn im Lesetext. Der Schriftschnitt Regular ist klar die geeignetste Variante. Zumindest dient sie als Vergleichsziel für einen abweichenden Schnitt. Eine Semi Light ist demzufolge eher geeignet als eine Light.

Es gibt hier einen Gestaltungskonflikt. Je dünner der Schriftschnitt, desto heller wird die Grauwirkung in der Spalte insgesamt. Eine helle Grauwirkung wirkt eleganter und eröffnet mehr Möglichkeiten, Texte auszuzeichnen. In der Grundschrift Light kann die Auszeichnung zum Beispiel für Zwischentitel Medium sein, aber auch Bold. Bei einer Grundschrift in Regular hebt sich Medium als Auszeichnungsschrift kaum ab, es bleibt nur Bold.

Bei gewissen Schriften sind die Stufen so fein, dass der Fettegrad fast unmerklich der Schriftgrösse angepasst werden kann. Das ist zum Beispiel bei der TAZ der Fall. Wer also bezüglich Leserlichkeit und Schriftschnitt das Optimum herausholen möchte, der suche einen Font, welcher zwischen Light und Regular einen oder zwei Zwischenschnitte bereithält.

Ein Kapitalfehler im Zusammenhang mit Leserlichkeit ist wohl nicht auszumerzen. Grundschriften sollten nämlich immer etwas gesperrt werden. Diese typografischen Basics sind auch bei Apple noch nicht angekommen. Design hatte dort noch nie mit Schrift zu tun, leider. Die erste Apple-Hausschrift war die Garamond Condensed, schon damals war die Schriftwahl der ersten 11 Apple-Fonts amerikanisch orientiert und eine Klatsche für typografisch Feinsinnige. Heute ist man bei der Helvetica angelangt, die Buchstaben stehen viel zu eng beieinander und sind denkbar schlecht leserlich. Die Fontauswahl, die für Apps zur Verfügung steht, ist ein historischer Querschnitt von unvollständigen Schriftfamilien, ein richtiges typografisches Seniorenheim. Apple könnte doch die besten zehn Schriftdesigner weltweit beauftragen, tolle und moderne Apple-Hausschriften zu entwickeln, die Kosten würden nicht einmal ein Tausendstel-Promille des Umsatzes betragen. Didot, Times, Bodoni, Cochin, Baskerville, Arial, Gill usw. sind nun einmal nicht die Schriften, die zu Themen wie Fluiddesign und schon gar nicht zu Leserlichkeit auf dem Handy passen wollen. Und wer wie Apple zeitlos blind in die Helvetica verliebt ist, der solle sie doch wenigstens mit etwas mehr Buchstabenabstand setzen, als dies 1960 Mode war.

Auszeichnungen

Als Auszeichnen wird das Hervorheben bezeichnet. Im laufenden Text ist das meist der kursive Schriftschnitt, der die Grauwirkung nicht verändert und erst während des Lesens ins Auge fällt. Mit dem Schriftschnitt Bold fällt die Hervorhebung schon vor dem Lesen auf, für die Leser bedeutet dies einen Leseeinstieg.

Besonders im Argen ist jedoch die Auszeichnung mittels Versalbuchstaben. Versalien bilden ein komplett anderes Schriftbild als Gross- und Kleinbuchstaben. Sie sind regelmässig und wirken steif und etwas krakelig. Grossbuchstaben kann man in einer kurzen Headline problemlos lesen, wenn jedoch ganze Sätze – vor allem in Einleitungstexten – zu sehen sind, dann hört der Lesespass auf.

Mehrzeilige Titel oder Leads sind eine arrogante Zumutung von Gestaltern, welche die Form vor die Funktion setzen. Es muss einfach gut aussehen, ob man es auch lesen kann, ist denen egal. Erstaunlich, dass nicht mehr Journalistinnen und Textlieferanten hier ihr Veto einlegen. Noch erstaunlicher, dass solche Gestalter sich im Impressum namentlich erwähnen lassen. Das wirkt auf mich oft wie eine Art Selbstdeklaration: «Seht her Leute, ich bins, der euch piesackt!» Ist es naives Nichtwissen oder bewusste Ignoranz?

Der Autor

Ralf Turtschi ist gelernter Schriftsetzer, Buchautor und Publizist. Er ist Inhaber von Agenturtschi, visuelle Kommunikation, in Adliswil und schreibt im Publisher seit Jahren praxisbezogene Beiträge zu Themen rund um Desktop-Publishing. E-Mail: turtschi@agenturtschi.ch