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Strichst�rken in Fonts

Nach dem Redesign einer Zeitung hagelt es immer wieder Leserproteste über die schlechte Leserlichkeit einer neuen Schrift. Ob im Grundtext verwendet, für Auszeichnungen oder im Fernsehprogramm, die Schrift hat einfach leserlich zu sein.

RALF TURTSCHI Wenn von Lesbarkeit die Rede ist, gibt es ziemlich viel Halbwissen und einfach so Dahergesagtes. Schnell wird eine Schrift als lesbar deklariert, weil Beweis und Gegenbeweis nicht zu erbringen sind. Lassen Sie mich eine Klammer öffnen, um die Indizien für Lesbarkeit zusammenzutragen.

Schrift hat verschiedene Funktionen. Als wichtigste müssen die Buchstaben und Zeichen schnell erkannt und gele­sen werden können. Bei grossen Textvorkommen wie bei Büchern, Zeitungen und Magazinen soll die Schrift einfach ohne Umstände selbstverständlich vom Papier oder Screen über die Augen ins Hirn gelangen. Beim bequemen Lesen wird die Buchstabenform an sich nicht wahrgenommen, lesen geht so automatisch wie das Atmen oder Riechen. Wenn dieser automatische Reflex durch Erschwernisse gehindert ist, wird der Leser erst darauf aufmerksam. Gute ­Leseschriften nimmt man nicht wahr, sie haben eine dienende Rolle, bei schlechten Leseschriften äussert sich das Lesen als nicht flüssig, man stolpert, muss Textstellen wiederholen oder die Lesehilfe zur Hand nehmen. Leserlichkeit wird nun aber nicht durch die Schriftform allein geschaffen, es spielen weitere Faktoren eine ebenso grosse Rolle: Laufweite, Zeilenlänge, Block- oder Flattersatz, Zeilenabstand, Schrift­grösse, Farbe, Hintergrund, Beleuchtung, Druckträger, Konzentrationsfähigkeit, Fitness, Gewohnheit, Ablenkung durch Erschütterungen, Lärm- oder Lichtquellen.

Leserlichkeit

Diese typografischen Einflussfaktoren sind durch jahrhundertealte Erfahrungen überliefert. Das Lesen hat auch mit Gewohnheit zu tun. Wir lesen gewohnte Schriften am besten. Lesbarkeit kann gemessen werden, indem man Probanden die gleichen Texte vorlegt und nach einer gewissen Zeit misst, bis wohin sie gekommen sind. So lässt sich vergleichen, ob eine Garamond schneller gelesen werden kann als eine Helvetica. Oder ob eine halbfette schneller gelesen wird als eine fette Schrift. Leserlichkeit hat also zu tun mit der Lesegeschwindigkeit, die allerdings sehr unterschiedlich sein kann, denn bekanntlich gibt es geübte und weniger geübte Leser. Die Leserlichkeitsuntersuchungen, die ich kenne, haben oft keine für den Leser signifikanten Unterschiede zutage gebracht. Wenn die Unterschiede etwa ±6% betragen, heisst dies, dass auf einer Magazindoppelseite mit einem üblichen Bildanteil etwa sechs Zeilen schneller gelesen wird. Das halte ich nicht für ­relevant, weil die Tests unter idealen Laborbedingungen stattfinden und nicht in der Strassenbahn. Überraschend ist vielleicht die Tatsache, dass nicht alle Serifenschriften obenaus schwingen und dass es auch Serifenlose gibt, die ebenso gut lesbar sind wie Serifenschriften. Serifen sind also kein Beweis für Leserlichkeit. Trotzdem haben sich im Mengensatz bisher Serifenschriften behaupten können. Die Serifen spielen eine gewisse Rolle beim besseren Erkennen ganzer Buchstabengruppen, weil sie ein geschlosseneres Satzbild erzeugen. Unsere Augen hüpfen ja in Sakkaden über den Text, ohne dass wir sie bewusst steuern. Zudem benötigen Serifen weniger Zeilenabstand, ein starkes Argument für den Mengensatz, weil dadurch mehr Zeichen untergebracht werden können. Die Wissenschaft hat die Art und Weise, wie wir lesen und verstehen, noch immer nicht ganz entschlüsselt. Vielleicht wird dies auch so bleiben, weil es einem einzelnen Leser subjektiv gleich ist, was der Durchschnitt aller Leser statistisch gesehen empfindet.

Abstufungen

Man sollte sich also auf die Fachleute verlassen, auf der einen Seite die Schriftgestalter, auf der anderen Seite die typografischen Anwender. Seit dem Aufkommen von Schriftgestaltungssoftware wie Fontographer oder FontLab ist es jedermann möglich, Schriften zu gestalten. Sie zeichnen ihre Fonts in der dünnsten und dicksten Strichstärke (z. B. Light und Black) und lassen von FontLab die Zwischenstufen regelmässig abgestuft rechnen (z. B. Regular, Medium und Bold). Bei annähernd 1000 Glyphen pro Schriftschnitt für eine Leseschrift eine enorme Zeitersparnis. Möchte man nun eine solche Schrift als Leseschrift einsetzen, stellt man fest, dass Light oft zu dünn und Regular zu dick ist. Selbstverständlich kann man im Nachhinein auch Zwischenstärken herstellen lassen, was aber wieder kostet und sich nur für gros­se Projekte lohnt.

Schriften gestalten

Im Bleisatz wurden früher die kleinen Grade durch die Stempelschneider ­automatisch etwas stärker gehalten, Titelschriften etwas dünner, wie dies in der Abbildung oben rechts verdeutlicht wird. Solche Beispiele gibt es bereits: Sie heissen Display- oder Headline-Schriften, auch ist oft der Unterschied von Book und Regular nicht auf den ersten Blick erkennbar, weil sich die Strichstärke in Lesegrössen nur unmerklich unterscheidet.

Adrian Frutiger hat mit seinem Futura-Gegenentwurf Avenir 1988 aufgezeigt, wie die Stärkenabstufung funktionieren könnte. Die Strichstärken (s. Abb.) nehmen nicht linear zu. Leider warf Linotype 2004 mit der Avenir Next dieses wunderbare Konzept über Bord und skalierte die Strichstärken zwischen den Schnitten Ultra Light und Heavy linear. Als effektive Leseschrift bleibt nur noch die Regular übrig.

Statt die Schriften üppig mit vielen Fetten zu versehen, wäre es typografisch sinnvoller, eine weitere Leseschrift zwischen Light und Regular zu schaffen, denn Leser beschäftigen sich länger mit Lese- als mit Auszeichnungsschriften. Die Leseschrift erzeugt Grauwirkung und damit Wirkung, sie wirkt luftig leicht oder behäbig schwer. Es ist unsinnig, eine einzige brauchbare Leseschriftstärke mit fünf Auszeichnungsstärken anzureichern. Hairline, Thin oder Black sind ohnehin nur selten in bestimmten Grössen einsetzbar. Für FontLab ist die entsprechende Rechenaufgabe nicht mit Mehraufwand verbunden, man müsste sich mehr auf Brotschriften konzentrieren, weniger auf die Beilagen. Wer es genau nimmt, kann um eine zu magere Schrift eine Kontur legen, um die Leserlichkeit zu erhöhen, was die vergleichenden Darstellungen rechts beweisen.