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Texte leserlich gestalten

Die wichtigste Funktion von Schrift ist Leserlichkeit. Das Thema ist nicht neu, verdient aber eine nähere Betrachtung, denn die heutigen Typografen sind nicht nur Profis. Immer mehr Marketingleute, Grafiker, Fotografen oder kaufmännische Mitarbeitende gestalten Texte.

RALF TURTSCHI Wenn in der heutigen Zeit Politiker nach Bildung als der Ressource der Schweiz rufen, dann hat dies mit Medienkompetenz zu tun. Der gekonnte Umgang mit Medien setzt Hören, Sehen und Lesen voraus. Während Sehen und Hören angeboren sind, stellt das Lesen eine soziale und kulturelle Leistung dar. Lesen, Schreiben und Sprechen wird während der Kindheit dazugelernt. Wie Menschen lesen, hängt von der Darstellung der Texte ab, ist aber auch von der Befindlichkeit und vom Umfeld des lesenden Menschen beeinflusst. Lärm, Erschütterung, Licht, körperliche und geistige Fitness, Stress, Motivation oder das Vermögen, überhaupt lesen zu können, wirken stärker auf eine Informationsaufnahme ein, als es die typografische Darstellung kann. Das ist aber kein Grund, die leserliche Textaufbereitung zu vernachlässigen. Im Gegenteil: Gute Typografie hilft auch bei schlechten äusseren Einwirkungen, und eine ungekonnte Textdarstellung führt auch bei guten Bedingungen eher zu einer Nichtkonsumation. Diese Einflussfaktoren gelten sowohl im Print- als auch im Screenbereich. Man sollte wegen der unterschiedlichen Einflussgrössen alles unternehmen, um ein Optimum an Leserlichkeit herauszuholen, denn typografische Sünden kumulieren sich: Eine exotische Schrift in Grossbuchstaben, die fast ohne Zeilenabstand zusammenkleben und erst noch farbig gedruckt sind, werden viele Leser verschmähen.

Das Lesen

Heute werden je nach Auslegung verschiedene Lesearten unterschieden: vernetztes Lesen (Internet), selektives Lesen (Fachzeitschrift), lineares Lesen (Roman), konsultatives Lesen (Lexikon), wissenschaftliches Lesen (Lernskript) und aktivierendes Lesen (Werbekommunikation). Bei jeder Leseart hat der Text eine andere akzentuierte Funktion. Im Duden soll der klein gedruckte Inhalt schnell gefunden, ein Strassenschild muss von Weitem sofort erkannt werden, im Buch muss der Text möglichst ermüdungsfrei gelesen werden können oder auf dem Handy soll man die SMS im Stechschritt mühelos lesen können.

Wir alle haben uns schon geärgert, wenn die Menükarte im schummrigen Lokal nicht lesbar war oder allgemeine Geschäftsbedingungen einfach nicht animierend gestaltet waren, wir ärgerten uns schon über unverständliche Manuals und unleserliche Schriften in Magazinen. Es ist ganz lapidar: Inhaltstexte sind dazu da, gelesen zu werden. Punkt. Daran gibt es nichts zu rütteln. Texte müssen also nicht in erster Linie gut aussehen, sondern leserlich sein. Wenn sie dann noch gut aussehen, umso besser.

Wir stecken mitten in einer digitalen Leserevolution. Texte und Bilder werden mehr überflogen, wir selektieren anders und ungeduldiger als früher. Wir zappen durch die Texte, lesen auch mal den Schluss zuerst. Die Welt verändert sich – werden wir weniger lesen, mehr gucken und hören? Werden wir das Denken und Behalten verlieren, da uns alle Informationen der Welt online jederzeit zur Verfügung stehen? Werden wir die eigene Handschrift verlieren? Oder ist das Gegenteil der Fall: Werden wir dadurch gescheiter? Geo 8/2009 berichtete, dass seit Erfindung der Schrift schon 32 Millionen Bücher herausgegeben wurden, 750 Millionen Artikel und Essays geschrieben und 100 Milliarden Websites veröffentlicht wurden.

Die Entwicklung der Länder dieser Welt hat einen direkten Zusammenhang mit dem Analphabetentum, wenn die Alphabetisierung 50% der Bevölkerung überschreitet, dann findet offenbar parallel dazu ein wirtschaftlicher Sprung statt. Lese- und Medienkompetenz ist der Erfolgsfaktor für die gesellschaftliche Entwicklung.

Der Lesevorgang

Beim Lesen überfliegen wir Wort- und Satzteile, die unser Auge-Hirn-System als «Bilder» registriert, abgleicht und mit einem Sinn ausstaffiert. Die Augen hüpfen in sogenannten Sakkaden über den Text, ruhen kurz auf Fixpunkten und springen dann weiter. Bei geübten Lesern geht dies schneller als bei Abc-Schützen, es soll sogar Leute geben, die können ganze Seiten aufs Mal «scannen». Oder in einer Fremdsprache liest man nicht gleich schnell wie in der Muttersprache. Lesen ist also Übungssache, wird demzufolge höchst individuell ausgeübt. Wenn Lesetexte typografisch optimiert werden, dann nützt dies vor allem den weniger Geübten.

Leserliche Texte

Wer Texte typografisch inszeniert, muss sich in den Kriterien auskennen, die Texte leserlich machen – gleich ob in Word, PowerPoint oder InDesign. Die Texte mit den zur Verfügung stehenden Werkzeugen einfach so zu schreiben, genügt nicht, die vielen schlechten Beispiele, die wir alle schon gelesen haben, zeugen davon. Typografie oder Texte leserlich zu gestalten, ist heute kein Ding der Fachleute mehr. Jeder, der die Werkzeuge einsetzt, muss gestalterisch damit umgehen, so wie wir mit Messer und Gabel umgehen können. Die öffentlichen typografischen Zeugnisse lassen Zweifel aufkommen, ob die Regeln für Leserlichkeit bei so genannten Fachleuten besser verankert sind als bei sogenannten Laien. Leider wird typografisches Grundwissen in vielen Grundbildungen sträflich vernachlässigt und auch in der täglichen Praxis nicht umgesetzt.

Im Zusammenhang mit Lesbarkeit existieren zwei unterschiedliche Begriffe: Leserlichkeit und Erkennbarkeit. Leserlichkeit bedeutet, wie viel Text man in einer gewissen Zeitspanne, z. B. in drei Minuten, lesen kann (Peter Karow, URW, Schrifttechnologie, Springer-Verlag). Wenn man 1000 Probanden den gleichen Text in Futura lesen lässt, und nach drei Minuten stoppt, lässt sich die durchschnittliche Textmenge feststellen. Wenn 1000 andere Probanden den gleichen Inhalt in Bodoni lesen, lässt sich anhand einer solchen Versuchsanordnung eruieren, wie es sich mit der Leserlichkeit verhält. Es lassen sich nicht nur Schriften, sondern auch Schriftschnitte oder -grös­sen vergleichen. Wie in der Abbildung dargestellt, ist der Unterschied kleiner als vermutet, bei einer durchschnittlichen Menge von 1153 Wörtern ist die Futura 1% weniger schnell leserlich als die Bodoni. Zur Vorstellung: Auf dieser Doppelseite stehen 1127 Wörter Grundtext. 1% würde gerade mal zwei Zeilen ausmachen, die in etwa 3 Sekunden gelesen werden. In einem Magazin vernachlässigbar. Die Quintessenz aus solchen Tests ist die, dass die Schriftartallein nicht dazu taugt, mit dem Begriff Leserlichkeit ausgezeichnet zu werden. Das machen sogar die Schriftenhäuser falsch, indem sie den Begriff unreflektiert allen möglichen Fonts zuordnen.

Der zweite Fachbegriff von Bedeutung heisst Erkennbarkeit. Damit wird die Zeit gemessen, in der ein einzelnes Wort erkannt werden kann. Bei Plakaten, Displays, Strassenbeschriftungen oder in der Werbung generell ist die Erkennbarkeit von Headlines wichtiger als die Leserlichkeit. Wie mit der Abbildung «Wortbild» aufgezeigt, sind Schriften mit unserem Abstraktionsvermögen mehr oder weniger erkenn- oder lesbar. Es ist einfach eine Frage, wie viel Zeit wir für die Erkennbarkeit aufwenden wollen oder ob wir vorher aussteigen.

Die Einflussfaktoren

Je nach Art des Lesens sind die Kriterien, die zu Leserlichkeit führen, etwas anders zu gewichten. Die folgenden Kriterien gelten für lineares Lesen.

Schrift an sich

  • Schriftart (Serifenschriften, Serifenlose, Regular, Bold, Italic)
  • Schriftfarbe (Schwarz, Rot, Weiss, Vollton, gerastert)
  • Schriftverzug (schmal, breit)
  • Schriftgrösse (in Punkt)

Schriftformatierung

  • Satzart (Flattersatz linksbündig, Mittelachse rechtsbündig, Blocksatz)
  • Wortzwischenraum (zu klein, Löcher im Blocksatz)
  • Zeilenlänge (50–60 Buchstaben im Buch, 35–40 Buchstaben im Magazin)
  • Zeilenabstand (120–150% der Schriftgrösse)
  • Laufweite (Buchstabenzwischenraum)
  • Trennungen (zu viele Trennungen hindern den Lesefluss)

Gestaltung

  • Augensprünge (von einer Spalte zur nächsten, über Bilder hinweg lesen)
  • Gliederung (Titelhierarchie, Absätze)
  • Umgebungsraum (Spaltenzwischenraum, Ränder)
  • Hintergrund (Farbe, Bild, Auflösung)
  • Papier (hochweiss, elfenbeinfarbig, Glanz, Naturpapier)

Die Märchen

Es hält sich sogar in Fachkreisen hartnäckig das Märchen, Serifenschriften seien besser leserlich als serifenlose. Wie schon gesagt, ist Leserlichkeit eine Gewohnheitsfrage. Tatsächlich gibt es unleserliche und leserliche Schriften aller Stilrichtungen. Zudem ist der Übergang zwischen Serifen und Serifenlosen inzwischen flies­send, sodass das Argument «Serifen» nicht stichhaltig ist. Empirische Untersuchungen haben ergeben, dass der Leserlichkeitsunterschied zwischen den gebräuchlichen Grundschriften nicht so gross ist, wie allgemein angenommen wird. Ein weiteres Märchen ist die Behauptung, die Garamond sei die beste und unerreichte Leseschrift überhaupt. Wer die Schriftgeschichte verfolgt, stellt fest, dass es heute ganz unterschiedliche Garamonds und Nachbildungen gibt. Die ITC Garamond halte ich für amerikanisch-hässlich, die Adobe Garamond oder die Stempel Garamond haben einen völlig anderen Duktus.

Es ist richtig, dass die Serifen beim Erkennen der Wortteile ein etwas geschlosseneres Bild erzeugen. Die Zeilen wirken auf der Schriftlinie durch die Serifen geschlossener. Damit wird der Zeilenabstand günstig beeinflusst. Serifenschriften benötigen eher etwas weniger, Schriften ohne Serifen eher etwas mehr Zeilenabstand. Das macht Serifenschriften platzsparender, ein ökonomischer Vorteil bei Büchern, bei denen weniger Seiten gefüllt werden, und bei Zeitungen, bei denen mehr Text Platz findet oder dadurch der Text etwas grösser gesetzt werden kann. Für die Leserlichkeit ist die Zone um die Mittellänge mehr verantwortlich als die Zone um die Serifen.

Ein paar Anregungen

Denken Sie die ganze Zeit im Gestaltungsprozess an Ihr Lesepublikum. Es gibt Menschen, die können vielleicht nicht so gut sehen wie Sie. Handelt es sich um einen längeren Lesetext oder geht es ums Auffinden von Text? Will der Text auffallen oder soll er angenehm gelesen werden können? Wie gross ist die Motivation für die Empfänger, den Text zu lesen?

Wählen Sie eine normale Leseschrift, Regular oder Book, allenfalls geht auch Light. Alles vom Gewöhnlichen Abweichende erschwert das Lesen: Bold, Grossbuchstaben oder auch Kleinschreibung. Verzichten Sie auf Verzüge (schmal stellen), gestalten Sie keine farbigen oder grauen Schriften unter 12 Punkt. Die dadurch aufgerasterte Schrift verliert an Schärfe. Normale Lesegrössen in Magazinen, Büchern oder Zeitungen liegen je nach Schrift zwischen 8 und 9 Punkt. 11 oder gar 12 Punkt ist zu gross, das wirkt auch in der Korrespondenz zu derb. Schwarze Schrift auf einem gebrochenen, nicht glänzenden Papierton ist am besten lesbar. Wählen Sie einen Zeilenabstand von mindestens 120% der Schriftgrös­se. Bei einer Zeilenbreite ab etwa 80 mm erweitern Sie den Zeilenabstand auf 150–180% der Schriftgrösse. Hinterlegen Sie Schrift nicht mit kräftigen und dunklen Farbflächen. Schwarze Schrift auf Dunkelrot oder Dunkelblau ist unleserlich. Gestalten Sie den Umgebungsraum nicht zu knapp, ein Spaltenabstand von 4–5 mm im Blocksatz ist angebracht, 3 mm ist zu wenig. Die Laufweite der Schrift ist entscheidend bei Lesegrössen. Je feiner und kleiner die Schrift, desto mehr muss die Laufweite (Buchstabenabstand, s. Textmuster oben) erhöht werden. Es gibt nur wenige Schriften, bei denen diese Laufweitenkorrekturen nicht notwendig sind. Die meisten Leseschriften laufen zu eng, die Buchstaben dürfen sich aber nicht berühren. Vor allem auf dem Bildschirm verschmelzen die Buchstaben beim Lesen zu ungewollten Ligaturen. Ungewohnte Wortbilder behindern das flüssige Lesen. Schriften, die offene Innenräume aufweisen, sind auf dem Screen besser leserlich. Die modernen Segoe oder Calibri sind also Welten besser als die Arial und die Helvetica.

Verbannen Sie die Mittelachse und rechtsbündigen Flattersatz, wenn Sie Lesetext gestalten. Der Zeilenbeginn muss jedes Mal neu gefunden werden. Denken Sie an die eiligen Leser, die Scan-Reader. Schaffen Sie mit einer Absatzgliederung, Zwischentiteln oder Zitaten Leseportionen, welche den Text zu verdaubaren Häppchen werden lassen. Und schliesslich lassen Sie den Text von Profis Korrektur lesen oder lektorieren, denn gehäufte Fehler in typografischen Erzeugnissen wirken peinlich, egal ob auf der Website, auf dem Tablet oder im Jahresbericht.