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Was muss eine Schrift k�nnen?

Die Anschaffung von Schriftfonts entscheidet sich nicht im luftleeren Raum. Von der Ästhetik abgesehen spielen vor allem praktische Erwägungen eine wichtige Rolle. Auf welche Leistungsindikatoren man als Designer achten sollte.

günter schuler Ein Fehler, der vielleicht vermeidbar gewesen wäre: Die Cochin, eine robust-kontrastreiche Übergangsantiqua, geniesst unter Typografen den Ruf einer erlesenen, etwas exquisiten Buchsatzschrift. Gekauft – gesetzt. Leider hat der Gestalter im Eifer des Gefechts eines nicht bedacht: Die Schnittausstattung dieser Traditionstype fällt etwas karg aus. Regular, Italic, Bold und Bold Italic – das wars schon. Zeichentechnisch bietet die Cochin ebenfalls wenig Variationsmöglichkeiten; das Inventar basiert auf dem alten ASCII-Standard. Fazit: Für das komplexe Magazinlayout, das ansteht, war die Grundschriftwahl etwas waghalsig. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird unser Beispiel-Gestalter eine andere Grundschrift verwenden. Vielleicht wird er auch improvisieren, wir wissen es nicht. Beim Neukauf einer Schrift spielen nicht nur ästhetische, designerische Kriterien eine Rolle, sondern auch ganz praktische. Frage aus dem Grund: Was sollte eine Schrift können?

Salopp formuliert, handelt es sich bei Schriftfonts um ein Mittelding aus Automobilmodellen und Haute Couture. Während man bei neuen Autos gern die Technik in den Vordergrund rückt (und der Blick zufrieden über die schnittigen Formen streift), ist es bei Modeartikeln umgekehrt. Schriften sind, was die Abwägung zwischen Design und Brauchbarkeit anbelangt, ein Zwitter. Einerseits geraten Designer, Typophile und Schriftsetzer gern ins Schwärmen über die Designattribute dieser oder jener Schrift. Geht es allerdings an das grafische Tagesgeschäft, verhält sich der gute Gestalter wie der Käufer eines Kraftfahrzeugs: Letzten Endes zählt vor allem das, was eine Schrift leistet. Eine Regel, die übrigens auch für Displayschriften gilt. Der Unterschied: Anders als bei Textschriften tritt bei Displays das Design stärker in den Vordergrund. Letzten Endes kommen allerdings auch Eyecatcher, Werbe- und Trendschriften recht leistungsorientiert da-her. Schreibschriften beispielsweise können Zeichenalternativen enthalten, mit deren Hilfe Abweichungen erzeugt werden können, wie sie für Handschriften typisch sind. Andere Display-Fonts enthalten zusätzliche Gimmicks wie etwa Clip-Art-Zusatzzeichen, grafisch aufgepeppte Varianten oder sonstige Schmuckelemente. Viel Zeug, was eine Schrift heutzutage potenziell beinhalten kann. Betrachten wir die Brauchbarkeitskriterien etwas näher.

Schnittausstattung: Wie opulent muss eine Schrift sein?

Die satztechnischen Indikatoren kom-men aus dem traditionellen Schriftsatz. Sie beinhalten vor allem die Ausstattung einer Schrift. Was kann oder sollte eine Schrift beinhalten?

Kursivschnitte: Kursive Schnitte gehören zur Basisausstattung jeder Textschrift. Echte Italics haben sich auch bei Groteskschriften mittlerweile flächendeckend durchgesetzt. Kennzeichen: Im Unterschied zu Oblique-Schnitten, die lediglich schräggestellte Versionen der Normalschrift beinhalten, offerieren Italic-Schnitte ein eige-nes Design. Zutage tritt diese designerische Detailausgestaltung besonders bei den Zeichen a, e, f und g.

Unterschiedliche Strichstärken: Abhängig von der Schnittausstattung kann die Strichstärke einer Schriftfamilie moderat bis extrem variieren. Eine Bold-Variante ist bei Textschriften mittlerweile fast Pflicht. Je nach Schrift können, von leicht bis schwer, folgende Variationen hinzukommen: Light, Semi Light, Medium, Demi Bold, Extra Bold, Heavy und Black. Feststehende Normen für die unterschiedlichen Bezeichnungen gibt es nicht; so kann eine Bold nur leicht fetter sein als der Normalschnitt, eine andere wiederum deutlich fetter. Die Normalvariante wird abhängig von der Schrift Regular oder Roman genannt. Einige Textschriften enthalten zusätzlich eine Book-Variante. Wie die Bezeichnung Book bereits verrrät, handelt es sich hierbei um eine Variante, die im Hinblick auf den Satz langer Texte optimiert wurde. Da zu den meisten Schnitten jeweils eine Italic- oder Oblique-Variante gehört, kann man davon ausgehen, dass pro Strichstärke zwei Schnitte fällig werden.

Optical Sizes: Im Unterschied zu normalen Schriften, die lediglich eine lineare Grösseninterpolation ermöglichen (und für 7 Punkt Schriftgrösse dieselben Zeichen zur Verfügung stellen wie für 72 oder 720 Punkt), enthalten Schriften mit Optical Sizes unterschiedliche Varianten für Kleingedrucktes, normalen Fliesstext, Intro-texte und Displaygrössen. Die Bezeichnungen: Caption (meist leicht fetter gestaltet), Regular usw. (bzw. keine Zusatzbezeichnung), Subhead und Display. Auch diese Bezeichnungen sind nicht normiert. Generell gilt: Optical Sizes sind zwar noch kein allgemeiner Standard, im Bereich Textschriften allerdings Trend. Beispiele für Schriften mit Optical Sizes: Warnock Pro, Arno Pro und Minion Pro.

Schmale und breite Zusatzreihen: Condensed- und Extended-Nebenreihen sind bei bestimmten Satzaufgaben praktisch, in einigen Fällen sogar unabkömmlich. Condensed-Nebenreihen sind vor allem bei neueren Textschrift-Serifenlosen mittlerweile fast obligatorisch. Ähnliches gilt für gut eingeführte Groteskschrift-Klassiker wie etwa Univers, alte und neue Helvetica, Gill Sans oder Futura. Bei Serifenschriften sind Condensed-Varianten weniger üblich; eine verbreitete Ausnahme von der Regel ist (in der Vollausstattung) die Minion Pro. Extended-Nebenreihen sind vor allem im Headline- und Plakatsatz gefragt. Da sich ihr Einsatzzweck stark mit dem von Displayschriften überschneidet, sind entsprechende Nebenreihen deutlich seltener als solche mit einer Condensed-Garnitur.

Schriftsippen: Schriftsippen haben sich in den letzten zwei Jahrzehnten fast zu einer Art Grundkonzept im Bereich Textschriften entwickelt. Im Klartext: Baukastenförmige Schriftentwicklung ist bei Textschriftdesignern mittlerweile fast obligatorisch. Neben der Standardvariante Sans Serif und Serif gibt es zahlreiche weitere Möglichkeiten, Sippen auf- und auszubauen. Einige Modelle interpolieren zwischen serifenlos und klassischer Antiqua (beispielsweise die Rotis). Andere betonen stärker stilistische Unterschiede und offerieren etwa eine klassizistische und eine humanistische Antiqua. Für komplexere Designs sind Sippen die Sorglospackung schlechthin: jede Menge Varianten, das Grunddesign jedoch aus einem Guss.

Zeichenausstattung: Wie um-fangreich muss eine Schrift sein?

Die gute Nachricht: Seit der Etablierung von OpenType als neuem Schriftstandardformat sind Schriftfonts mit x-Hunderten Zeichen allgegenwärtig. Die Zeichenausstattung aktueller Schriften geht grob in zwei Richtungen: a) zusätzliche Typo-Gimmicks, die über die OpenType-Features in Layout- oder Grafikprogrammen aufgerufen werden können, b) zusätzliche Sprachunterstützung. Achtung: Ältere PostScript- oder TrueType-Fonts, die entsprechend ausgebaut sind, stellen die entsprechenden Zeichensets in Form zusätzlicher Schnitte zur Verfügung. Gängige Kennungen: SC (Small Caps; echte Kapitälchen, meist auch alternierende Ziffern mit Ober- und Unterlänge), OSF (Old Style Figures, meist mit ähnlichem Inhalt), Expert (vorgefertigte Brüche, Spezialzeichen sowie unterschiedliche alternierende Zifferntypen), CE (Central European), Greek (Zeichensatz für das griechische Alphabet) und Cyr (Cyrillic; Zeichensatz für das kyrillische Alphabet).

Typografische OpenType-Features: Für Typophile ist OpenType das Paradies – genauer: ein Baukastenset, über das eine immense Vielfalt unterschiedlicher Zeichen ansteuerbar ist –, sofern diese in einer Schrift enthalten sind. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um zusätzliche Schönsatzziffern (Ziffern mit Ober- und Unterlänge) sowie echte Kapitälchen. Abhängig von der Schrift können zusätzliche Zierzeichensets hinzukommen. Wichtig zu wissen: Nicht jede Schrift enthält derartige Gimmicks. Während OpenType-Schriften mit der Zusatzbezeichnung «Standard» solche Gimmicks beinhalten können, aber nicht müssen, gehören Sie bei Open­Type-Schriften mit der Zusatzbezeichnung «Pro» sozusagen mit zum Programm. Wer entsprechende Zeichensets einsetzen will, sollte bei der Neuanschaffung einer Schrift zuerst schauen, ob diese die gewünschten Zeichensets überhaupt enthält. Beispiel: Die eingangs erwähnte Cochin ist in der Beziehung deutlich ausbaufähig.

Zusätzliche Sprachunterstützung: Bis vor nicht allzu langer Zeit lieferten Satzschriften lediglich die Zeichengrundausstattung für das lateinische Alphabet. Genauer: die in Westeuropa, Nord- und Südamerika gängige Variante, welche durch den ASCII-Zeichenkatalog abgedeckt war. Moderne OpenType-Schriften basieren auf dem umfassenden Unicode-Zeichenkatalog. Praktische Auswirkung: Neben dem normalen Latin-Alphabetsatz enthalten mehr und mehr Schriften auch Zeichen für die mitteleuropäischen Schriften. Eine Reihe Fonts offeriert über das lateinische Alphabet sowie die CE-Belegung hinaus auch Zeichen für das kyrillische und das griechische Alphabet. Welche Schrift­systeme Schrift XY unterstützt, können Sie sich übrigens in Ihrem Schriftverwaltungsprogramm anzeigen lassen. Schriften, welche die meisten oder sogar alle Schriftsysteme unterstützen, sind allerdings nach wie vor rar. Die beiden bekanntesten – Arial Unicode und die Shareware-Schrift Code2000 – sind für den professionellen Satz leider wenig geeignet.

Alternative Varianten: Einige Schriften offerieren als grafische Spezial-Gimmicks alternative Schnittvarianten: Schriftversionen, in denen einzelne Zeichen abweichende Merkmale enthalten. Einige Schriften setzen das Spiel mit abweichenden Attributen auf umfassendere Weise in Szene – beispielsweise die Bernini, eine neue Groteskschrift, die neben der Akzidenz-Grotesk-ähnlichen Normalvariante auch eine stärker humanistisch gestaltete Zweitreihe in petto hat. Ob eine Schriftfamilie zusätzliche Alternate-Schnitte enthält oder andere Gimmicks, ist insbesondere bei Schreibschriften interessant. Derzeitiger Stand der Dinge: Während manche Schriftfamilien alternative Zeichen in Form traditioneller Schriftschnitte offerieren, ermöglichen andere das Anwählen unterschiedlicher Zeichenvarianten via OpenType-Feature.

Technik: Wie alt darf eine Schrift sein?

Auch hier die gute Nachricht zu Beginn: Grundsätzlich gesehen sind selbst Fontdateien, die aus den Neunzigern stammen, heute noch einsetzbar. Man sollte es mit der Sparsamkeit allerdings nicht übertreiben. Die beiden wesentlichen Fallstricke:

Kompatibilität: PostScript-Schriften sind nicht nur aufgrund ihrer limitierten Zeichenvolumen technisch veraltet. Schwerwiegender ist die Inkompatibilität zwischen Win- und Mac-Schriftversionen. Wer derartige Probleme in seinem Workflow ausschliessen möchte, setzt stringent auf OpenType-Fonts. OpenType ist nicht nur besser. Perspektivisch ist zumindest das PostScript-Format ein Auslaufmodell.

Schriftversionen: Die Zeichen für die wichtigsten Währungen (Euro, Dollar, Yen und Pfund) sind in den meisten Schriften mit enthalten. Lediglich bei alten Fonts kann das Euro-Zeichen fehlen. Abhilfe hier: Upgrade auf eine neuere Version, bei der Gelegenheit gleich auf das aktuelle Open­Type-Format. Die Version einer Schrift sowie weitere technische Informationen können Sie sich im Schriftverwaltungsprogramm anzeigen lassen. Workflowtechnisch kann das Arbeiten mit unterschiedlichen Versionen zu Problemen führen – etwa, wenn eine PostScript-Schrift mit Euro-Zeichen auf eine vorhandene Version ohne trifft. Abgesehen davon: Schriftupgrades sind herstellerseitig ein beliebter Anlass, die betreffende Schrift mit neuen Leistungsmerkmalen wie zum Beispiel zusätzlichen Schnitten oder anderen Gimmicks auszustatten.

Ästhetik: Wie schön sollte eine Schrift sein?

Widmen wir uns am Ende dem schönen Schein. Denn letztendlich sollte eine Schrift auch gefallen, konkreter: ästhetische Alleinstellungsmerkmale haben, eine bestimmte Typoschule oder Epoche repräsentieren, Signale setzen für Modernität oder Traditionsbewusstsein, einen gewissen Chic in Szene setzen oder – erinnern wir uns an das Beispiel mit der Cochin zu Beginn – den typografischen Geschmack des Gestalters oder der Gestalterin widerspiegeln. Die gute Nachricht: Um typografisch das in Szene zu setzen, was Sie wollen, steht Ihnen mittlerweile ein Fontangebot im fünf- bis sechsstelligen Bereich zur Verfügung. Die Trends in der Typografieszene – in der letzten Dekade vor allem Schriftsippen, OT-Features, Retrofonts und Schreibschriften unterschiedlichster Couleur – sind zum Teil hochinteressant. An der Stelle zwei Hinweise auf zwei Ästhetikmerkmale, die im Hinblick auf die Einsetzbarkeit von Fonts relevant sind:

Optische Schriftgrösse: Anders als bei den Optical Sizes, bei denen unterschiedliche Schriftgrössen im Mittelpunkt stehen, geht es hier um die unterschiedlichen Höhenproportionen von Schriften beziehungsweise die Eigenheit, dass Schriften bei gleicher Punktgrösse optisch unterschiedlich gross wirken. Während bei einigen Schriften die Betonung der x-Höhe sehr dominant ausfällt, kommen andere eher schlank und rank daher – ausgreifende Ober- und Unterlängen, wenig Bauch. Der Unterschied im Gebrauch: Während sich «ausgreifendere» Schriften (wie beispielsweise die Adobe Garamond) im Buchsatz gut bewähren, empfehlen sich «kompakter» gestaltete Modelle (wie etwa die Stone Serif oder die Malabar) als leistungs­fähige Allrounder im Magazinsatz.

Original oder Klone: Schriftklone sowie – gut und minder gut gelungene – Plagiate bekannter Schriften sind in der Typografie allgegenwärtig. Die Frage, ob man etwa bei einem bekannten Groteskschriftmodell das Original verwendet oder aber eine preisgünstige Variante mit anderem Namen, ist letztlich auch eine Preisentscheidung. Allerdings: Die feinen Unterschiede findet man oftmals in den Details – beispielsweise bei der Schnittausstattung. Andere Originalitätsfragen betreffen das Design als solches. Frage hier: Wie wichtig sind designerische Alleinstellungsmerkmale – etwa bei einem bestimmten Schriftzug? Beispiel: die Auftaktillustration dieses Beitrags. Während die Sahara Bodoni als Überarbeitung einer alten Tabakwerbeschrift für gewisse Aha-Momente sorgen kann, gilt die Bodoni Poster auf dem Gebiet fette Klassizistische als Standardlösung. Tipps kann man hier nur schwer geben. Allgemeines Résumé: Vergleichen lohnt sich.

Fazit

Typografie war schon immer ein recht variantenreiches Metier. Um sich im Meer der x-Tausend Angebote nicht zu verlieren, sollte man die Ausstattungsmerkmale immer mit im Blick haben. Zusammengefasst sind dies: bei Textschriften die Basics Strichstärken plus Kursivschnitte, die Ausstattung mit typografischen und sprachlichen Zusatzzeichenets; eventuell das Ganze in erweiterter Form – entweder mit schmallaufender Condensed-Variante oder gleich in Form einer stilübergreifenden Schriftsippe. Bei Display- und Schreibschriften sind die Merkmale ähnlich. Unterschied hier ist, dass Attribute wie Gefälligkeit und Modernität eine weitaus grössere Rolle spielen. Formattechnisch schliesslich spricht alles für die Verwendung zeitgemässer OpenType-Fonts. Last, but not least: Wie bei anderen Neuanschaffungen auch lohnt sich immer ein Angebots- und Preisvergleich. Da die Neuanschaffung einer Schrift letztlich auch mit Gefallen zu tun hat, sollte auch für spontane Entscheidungen ein gewisser Raum da sein. Im Sinn einer Schrift­bibliothek mit individueller Note – und, im Zweifelsfall, zu Ihrem persönlichen Plaisir.

Dem Thema optische Schriftgrösse wird sich in einer kommenden Ausgabe des Publisher ein eigener Beitrag widmen.