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Zwischen einfach und hochkomplex

Ist die Pinselspitzen-Sektion von Photoshop überladen? Oder nur ein differenziert durchgestaffelter Funktionsbereich? Die Antwort hängt vom jeweiligen Arbeitsschwerpunkt ab. Ein Beitrag zum besseren Überblick.

günter schuler Mit den in der letzten Publisher-Ausgabe vorgestellten Werkzeugvorgaben haben die Pinselspitzen von Photoshop eine Menge gemein. Sie sind – je nach Fall – hochspeziell, über mehrere Paletten verteilt, in Unterfunktionen und Untertypen untergliedert und darüber hinaus abhängig vom jeweiligen Werkzeug. Anwenderseitig hängt der Umfang der Benutzung stark vom Hauptarbeitsgebiet ab. Bei normalen Retusche- und Optimierungsarbeiten etwa dürfte nur ein Bruchteil des Funktionsumfangs zum Zug kommen, der sich um die Pinselfunktionen von Photoshop herum gruppiert. Erst in der Tiefe offenbart sich die Komplexität dieses Funktionsbereichs – in der High-End- und Glamour-Retusche, bei der Gestaltung feingliedriger Illustrationen, beim Anbringen spezieller Effekte sowie bei der Verwendung von Photoshop als Malprogramm.

Photoshop-Pinsel sind sicher auch Geschmackssache. In kaum einem Funktionsbereich offenbart sich die Vielgestaltigkeit des Programms so stark wie bei seinen diversen Mal- und Pinselfunktionen. Normale Anwender kommen locker mit einem Bruchteil über die Runden. Versierte Digital-Art-Spezialisten hingegen können auf eine Funktionsfülle zurückgreifen, welche den Vergleich mit Spezialanwendungen à la Painter nicht scheuen muss. Um die Klientel der High-End-Kreativen zufriedenzustellen, haben die Adobe-Entwickler diesen Bereich stetig nachgerüstet. Die Folge davon: Die Systematik der Malwerkzeuge und dazugehörigen Pinsel in Photoshop muss man sich erst einmal erschliessen. Voraussetzung hierfür: einige Basiskenntnisse über deren Organisation. Beginnen wir also mit den Basics – der «Kartografie» der Mal- und Pinselfunktionen von Photoshop.

Pinsel für Einsteiger: Werkzeuge, Typen, Untertypen

In Sachen Anzahl ist die Gruppe der Photoshop-Werkzeuge, die auf Pinselspitzen (egal welcher Natur) zurückgreift, die Grösste. Pinselrelevant sind insgesamt 7 Werkzeug-Obergruppen: Reparaturpinsel, normale Pinsel, Stempel-Werkzeuge, Protokollpinsel, Radierwerkzeuge sowie zwei Gruppen für die lokale Bildnachbearbeitung. Insgesamt enthalten die 7 aufgeführten Gruppen 22 Einzelwerkzeuge. 18 davon greifen explizit auf Pinseleinstellungen zurück. Wobei bereits hier eine wesentliche Unterscheidung zum Tragen kommt: Nur 8 dieser 18 Pinselwerkzeuge – Pinsel, Buntstift, Mischpinsel, Kopierstempel, Musterstempel, Protokoll-Pinsel, Kunstprotokoll-Pinsel und Radiergummi – ermöglichen den Rückgriff auf das volle Pinselspitzen-Instrumentarium. Die 10 restlichen Tools hingegen – Bereichsreparatur-Pinsel, Reparatur-Pinsel, Farbe-Ersetzen-Werkzeug, Hintergrund-Radiergummi-Werkzeug sowie Abwedler, Weichzeichner und Co. – ermöglichen lediglich das Arbeiten mit generischen Pinselspitzen.

Deren Einstellungsmöglichkeiten fallen vergleichsweise spartanisch aus. Die beiden für Pinselspitzen «zuständigen» Paletten – Pinsel und Pinselvorgaben – bleiben bei diesen zehn Werkzeugen gedimmt. Auch die Werkzeugvorgaben (siehe hierfür Artikel in der letzten Publisher-Ausgabe) bieten – sofern nicht eine entsprechende Vorgabe vorliegt – nichts, auf das man zurückgreifen könnte. Das Popup-Feature in der Optionsleiste zur Einstellung der Pinseleigenschaften liefert für diesen Werkzeug-Typus lediglich drei Hauptparameter: Grösse, Härte und Abstand. Hinzu kommen zwei Eingabefelder für die Winkelung sowie die Ovalstellung der Auftragsspitze. Anders sieht die Sache bei den «klassischen» Pinselwerkzeugen aus.

Arbeiten Sie etwa mit dem Pinsel-Werkzeug, steht eine schier überwältigende Menge unterschiedlicher Pinselspitzen zur Verfügung. Auch die Anzeige in den beiden Bedienfeldern ändert sich geradezu dramatisch. Abhängig von der aktuell aktivierten Belegung können Sie auf eine Vielfalt unterschiedlichster Vorgaben zurückgreifen. Wie opulent die Photo­shop-Entwickler diesen Bereich bestückt haben, zeigt sich beim Blick in den unteren Bereich des Bedienfeldmenüs der Pinselvorgaben-Palette. Aufgelistet ist hier ein rundes Dutzend zusätzlicher Sets, die Sie ebenfalls laden können: Kalligrafie-Pinsel, Faux-Pinsel, Natürliche Spitzen und so weiter.

In Sachen Grösse, Form und Auftragseigenschaften sind die Unterschiede ebenfalls immens. Einen ersten Hinweis auf den Typus gibt die jeweilige Miniatur. Je nach Darstellungsmodus zeigt die Liste entweder nur Textinfos, nur Symbole, Textinfos plus Symbole oder aber Symbole plus Miniatur der konkreten Pinselvorgabe an. Angehören können diese fünf unterschiedlichen Grundtypen: normale Pinsel, Pixelbild-Pinsel, Borsten-Pinsel, Erodierbare-Spitzen-Pinsel sowie Airbrush-Pinsel.

Die ersten beiden Gruppen dürften auch durchschnittlichen Photoshop-Anwendern bekannt sein. «Normale» Pinsel sind – zunächst einmal – durch die bereits fünf aufgeführten Grundeigenschaften definiert: Grösse, Weichheit und Abstand sowie Ovalität und Winkelung. Eingerichtet werden sie stets über Parameter. Pixelbild-Pinselspitzen hingegen entstehen durch das Aufnehmen von Partien in einem Bild: Über den Befehl Bearbeiten > Pinselvorgabe festlegen können Sie aus einer beliebigen Auswahl eine Pinselspitze erzeugen. Intern wandelt Photoshop die Auswahl in ein Graustufenbild um. Auftragsmodus: Je dunkler die Stelle in der Pinselspitze, desto intensiver der Auftrag.

Die anderen drei Gruppen sind Spezial-Pinseltypen. Borsten-Pinselspitzen sind um zusätzliche Eigenschaften erweiterte normale Pinselspitzen. Sie dienen im Wesentlichen dazu, traditionelle Malpinsel zu simulieren. Attribute sind entsprechend Breite, Härte, Elastizität, Borstenbeschaffenheit sowie ein paar flankierende Eigenschaften. Die beiden restlichen Spezialtypen simulieren ebenfalls analoge Arbeitstechniken. Erodierbare Spitzen, eingeführt in Programmversion CS 6, sind auf trockene Auftragsarten geeicht, wie sie für Buntstifte oder Kreidemalerei typisch sind. Airbrush-Spitzen wiederum simulieren, wie der Name bereits sagt, das Verhalten von aufgesprühter Airbrush-Farbe.

Der Clou (oder, je nach Standpunkt, die Crux): Jeder der aufgeführten fünf Grundtypen bietet eine Reihe zusätzlicher Einstellmöglichkeiten. Zentralisiert vorzufinden sind diese im Bedienfeld Pinsel. In Sachen Bedienfelder ist also eine Aufgaben-Zweiteilung vorgegeben: Während die Palette Pinselvorgaben das Inventar an aktuellen fertiggestellten oder hinzugeladenen Pinselspitzen präsentiert, fungiert die Palette Pinsel als eine Art Produktionshalle für das Erstellen neuer Pinselvorgaben. Der Workflow von Erstellung zu Verfügung gestaltet sich wie folgt: Aus dem mittleren Fenster wählen Sie zunächst eine bereits vorhandene Pinselspitze aus (das Gros davon entspricht den bereits erwähnten Pinselvorgaben; ein kleiner Rest ist als Standardvorgabe stets präsent). Über die Eigenschaften-Liste links sowie die dazugehörigen Features können Sie nunmehr die gewünschten Eigenschaften einstellen und das Ergebnis über den Bedienfeldmenü­-Befehl Neue Pinselvorgabe abspeichern.

Pinsel und Pinselvorgaben in der Praxis

Die Vielgestaltigkeit der in Photo­shop enthaltenen Pinsel-Funktionen geht noch weiter. Ein Punkt ist die Grösse respektive der Durchmesser. Einerseits sind feste Grössenangaben – ein in Pixel angegebener Durchmesser – in der Definition einer Pinselvorgabe mit enthalten. Andererseits lässt sich diese Grundeinstellung leicht modifizieren. Erfahrene Photo­shop-Anwender verwenden für das Verändern der Grösse der Werkzeugspitze Ctrl + Alt+ Ziehen mit der Maus (Mac) resp. Ctrl + Alt+ Ziehen mit gedrückter rechter Maustaste (Windows). Einen anderen Zugriff finden Sie wahlweise im Panel Pinselvorgaben (Grösse-Regler ganz oben) oder – inklusive Regler für die Härte – im entsprechenden Aufklappfeld in der Optionsleiste.

Entscheidend mitbestimmt wird der Auftrag einer Pinselspitze natürlich von dem verwendeten Werkzeug. Da Werkzeuge unterschiedlichen Aufgaben dienen, ist dieser Sachverhalt wenig erklärungsbedürftig: Ein Werkzeug zum Wegradieren verhält sich selbstredend anders als eines zum Auftragen von Farbe, eines zum Retuschieren (Standard: Stempel-Werkzeug) wiederum anders als eines zum Restaurieren (Beispiel: Protokollpinsel). Von Interesse ist dieser Umstand wegen der werkzeugspezifischen Optionen, die mit einer Pinsel-, Radiergummi-, Stempel- oder Protokollpinsel-Anwendung einher gehen können. In der Regel sind die Hauptoptionen Deckkraft, Füllmethode und Fluss. Beim (stets hartkantigen) Buntstift-Werkzeug fällt Fluss weg. Bei den Radiergummi- und Stempel-Werkzeugen fallen die Feineinstellungen für den Auftrag weitgehend weg; an ihre Stelle treten andere, werkzeugspezifische Optionen. Variieren können diese auch innerhalb der einzelnen Gruppen. Beispiel Protokollpinsel. Die herkömmliche Variante ähnelt in funktionstechnischer Hinsicht stark dem konventionellen Pinsel-Werkzeug. Der Kunstprotokoll-Pinsel wiederum hat zusätzliche Optionen in petto, über die Sie den Auftrag früherer Bildversionen künstlerisch verfremden können.

Farbe auftragen oder verwischen? Eine gute Frage. Die bemerkenswertesten Unterschiede finden sich bei den beiden Pinsel-Varianten Pinsel und Mischpinsel. Der Unterschied: Während das klassische Pinsel-Werkzeug Farbe entweder deckend oder in modifizierter Form abhängig von den Deckkraft- und Füllmethode-Einstellungen aufträgt, vermischt der Mischpinsel vorhandene Farben über unterschiedliche Formen und Grade der Vermischung. Die Strich- und Malsimulationstechniken, die mit diesem Werkzeug möglich werden, sind beachtlich. Möglich sind: unterschiedliche Auftragsarten changierend zwischen nass und trocken, einstellbare Mischverhältnisse zwischen Bild und aktueller Farbe, Reinigungsintervalle via Popup-Einstellung sowie einiges mehr. Last but not least wäre Photoshop nicht Photo­shop, böte das Programm nicht zusätzlich Möglichkeiten, Pinselvorgabe und Werkzeugeinstellungen miteinander zu kombinieren. Ebenso wie bei den anderen Werkzeugvorgaben (siehe letzte Publisher-Ausgabe) ist auch das Panel mit den Werkzeugvorgaben stets in der Optionsleiste präsent – direkt links neben dem Aufklappfeld mit den Pinselspitzen. Regel: Speichern Sie über das Bedienfeldmenü eine neue Werkzeugvorgabe ab, ist sie dort präsent, sobald das Stempel-Werkzeug, das normale Pinsel-Werkzeug oder der Mischpinsel wieder aufgerufen wird.

Fazit

Ist all das Overkill? Es kommt darauf an, von welcher Warte aus man diese spezielle Werkzeugsektion betrachtet. Viele Kreative und High-End-Retuscheure sind der festen Ansicht, dass «ihr» Photoshop nicht genug Pinseloptionen enthalten kann. Ein Indiz hierfür sind die zahlreichen Download-Angebote mit anwenderdefinierten Pinselspitzen-Sets. Allerdings besteht auch die Option, die «Small Is Beautiful»-Variante zu fahren. Beispielsweise durch Erstellung eines Sets normaler Pinselspitzen ohne Zusatzeigenschaften in bildtypischen Grössen – das Ganze in drei unterschiedlichen Härtegraden (ganz hart = 100%, mittelhart = 50% und weich = 0%). Speichern Sie das Ganze als Set in dem dafür vorgesehenen «Presets»-Ordner ab und bereinigen Sie im Anschluss die Liste der präsent gehaltenen Pinselvorgaben, so haben Sie alles, was Sie für Standardaufgaben benötigen. Und werden nicht vom Wesentlichen abgelenkt.