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Ideenfindung mit Hilfe der Crowd

Atizo.com ist eine Schweizer Webplattform, die «Social Innovation» betreibt: Sie ent­wickelt mit einer Community Ideen und verfeinert Konzepte. Ein einheimisches Beispiel für die digitale Transformation, das auch die Probleme des Crowdsourcings aufzeigt.

Matthias Schüssler Heute findet öffentlich statt, was früher im stillen Kämmerchen – respektive in den vier Bürowänden – ausgebrütet wurde. Per Schwarmfinanzierung wer­den Projekte angestossen, die noch vor Jahren mit Bankkrediten realisiert worden wären. In den sozialen Medien werden private Belange öffentlich und der «user generated content» tritt, ob nun von breitem Interesse oder nicht, in Konkurrenz zu den Inhalten der etablierten Medienhäuser.

Das wirft bewährte Geschäfts­modelle über den Haufen – und wirkt disruptiv, wie das auf Neudeutsch heisst. Wie weit die Schockwellen reichen, führen uns der Fahrvermittlungsdienst Uber und Airbnb, der Marktplatz für Schlafgelegenheiten, vor Augen. Aber ist diese «Sharing Economy» – das Teilen von matriellen und immatriellen Gütern – wirklich so altruistisch, wie es den Anschein macht?

Einer, der es wissen muss, ist Adrian Gerber. Er ist Geschäftsführer von Atizo 360°, der Schweizer Plattform für «Social Innovation». Hier stellen seit 2007 Unternehmen Ideen zur Diskussion, entwickeln neue Produkte und stellen Konzepte auf den Prüfstand. «Auch wir sind keine rein altruistische Unternehmung. Und vielleicht nehmen wir anderen im Marktsystem Anteile weg», sagt Gerber.

Viele werden nass

Doch das Phänomen lässt sich nicht aufhalten. «Man kann sehen, ob man nass wird oder nicht, wenn die Welle auf einen zurollt», meint er. «Und viele Organisationen werden feststellen, dass sie nass werden.» Doch das ist auch dem Umstand geschuldet, dass es sich um ein junges Phänomen handelt. Die Sharing Economy steckt noch mitten in der Pubertät – nicht erwachsen, sondern mit Ecken und Kanten.

Das wird sich verändern, ist Adrian Gerber überzeugt: «In 10 Jahren wer­den wir es mit einem Erwachsenen zu tun haben, der die Regeln kennt. Dann werden wir nicht mehr über Grundsätze diskutieren.»

Auf Atizo.com findet quasi ein Outsourcing der Ideenfindung statt – inzwischen für viele Schweizer Unternehmen. Davos Klosters Tourismus ist eines davon. Die Organisation wollte herausfinden, wie die Kunden motiviert werden können, ihre Winterferien möglichst frühzeitig zu buchen. Die Carsharing-Genossenschaft Mobility hat das Bedürfnis der Kunden eruiert, Mietautos nicht am Ausleihort zurückbringen zu müssen.

Und Getränkehersteller Rivella hat die neuen Geschmacksrichtungen Rabarber und Pfirsich entwickelt, obwohl die ursprüngliche Idee in eine andere Richtung ging. Die Community hat den Hersteller überzeugt, dass eine Submarkenstrategie sinnvoll ist. Die Submarke Rivella Cliq darf gegenüber dem klassischen Rivella wilder und experimentierfreudiger sein und neue Dinge ausprobieren.

Und: «Das Miteinbeziehen des Kun­den zeigt eine Wertschätzung gegenüber dem Kunden», bekräftigt Adrian Gerber. Die Community, die am Anfang hilft, neue Ideen auszubrüten. Vor der Lancierung werden die Konzepte dann aber oft wie gehabt durch Marktforschung geprüft.

Keine Gratis-Methode

Atizo 360° wird auch von Unternehmen wie den SBB, Nestlé, der SRG, Findus, Emi, Tchibo und der Fifa be­nutzt. Die Plattform ist aber nicht den Grossen vorbehalten. «Jeder kann mit jeder Frage kommen», sagt Adrian Gerber. Das Community-Brainstorming sei eine Methode mit breiter Anwendung.

Eines jedoch ist eine Fehlannahme: Die Vermutung nämlich, die Methode sei billig oder gratis, weil ganz viele Leute «einfach so» mitmachen würden. «Man muss als Organisation eine Lernkurve beschreiten.» Atizo 360°, das Mutterhaus der Webplattform, begleitet diesen Prozess: Das beginnt bei der Fragestellung, die möglichst griffig formuliert sein soll, sodass internationale Teilnehmer gute Antworten liefern können, selbst wenn sie die fragende Organisation nicht kennen.

Ideen verdichten

In den nachgelagerten Verdichtungsworkshops werden die nur kurz formulierten Vorschläge zum Konzept ausgearbeitet. «Der Mehrwert entsteht im Workshop», bekräftigt Adrian Gerber. Wie viel das insgesamt kostet, sei schwierig zu sagen, weil die Projekte sehr individuell seien und je nach Branche und Bedürfnissen unterschiedliche Restriktionen bestünden, sagt der Chef der Plattform mit dem Verweis auf die Pharmaindustrie. Die Kosten bewegen sich zwischen wenigen Tausend bis 25 000 Franken.

25 000 Innovatoren betreiben öffent­-liches Brainstorming beim Marktführer in Europa. Die Motivation der Ideenlieferanten ist immer die gleiche: Man hat ein Interesse daran, eigene Ideen zu teilen und die Marktkultur zu gestalten. Es gibt zwar eine Prämie, die für die beste Idee oder die besten Ideen ausgesetzt ist. Sie ist jedoch nicht der Hauptanreiz, sondern so etwas wie das Schmiermittel im Getriebe.

Das grosse Plus des Crowdsourcing ist die Aussensicht. «Selbst wenn man Google heisst: Es gibt mehr Wissen ausserhalb des Unternehmens als innerhalb», sagt Gerber. Crowdsourcing sei der Weg, die Scheuklappen abzulegen, Ideen zu entwickeln, auf die man selbst nicht gekommen wäre – und Kundennähe zu beweisen.

Die Trolle abwehren

Die Kehrseite der Öffentlichkeit ist der oft derbe Umgangston im Netz. Je grösser eine Community, desto mehr Querschläger gibt es. Um die Qualität aufrecht zu erhalten und die Leute zur konstruktiven Teilnahme zu motivieren, betreibt die Schweizer Innovationsplattform eine so genannte Konditionierung der Community: Nicht viele Leute, sondern die richtigen. «Wenn man das aufweicht, indem man viele neue Teilnehmer dazu holt, dann wären wir in Richtung Facebook unterwegs.» Dort sei die Währung nicht die Nützlichkeit, sondern die Anzahl Likes, wie sie von lustigen oder dummen Aussagen eingeheimst werden. «Dort wollen wir nicht hin», bekräftigt Adrian Gerber.

Das Gespräch mit Adrian Gerber gibt es auch als Audio-Podcast unter bit.ly/atizo-inti.