Cover_19-6_gruen_low

Schweizer Fachzeitschrift
für Publishing und Digitaldruck


Heft-Archiv >> 2015 >> Publisher 2-15 >> Publishing >> (G)runderneuert

(G)runderneuert

Seit einigen Wochen steht Inkscape 0.91 zum freien Download bereit. Die neue Version des quelloffenen Vektorzeichenprogramms scheint auf den ersten Blick wenig spektakulär zu sein. Vor allem unter der Haube hat sich jedoch sehr viel getan.

christoph schäfer Der im Vergleich zur Vorversion Inkscape 0.48 als gewaltig erscheinende Nummerierungssprung ist weniger ein Hinweis auf grundstürzende neue Funktionen; vielmehr widerspiegelt er einen Gesinnungswandel der Entwickler. Letzteren erschien das alte Schema vor dem Hintergrund des Erreichten als schlichtweg nicht mehr angemessen.

Universaler Anspruch

Obwohl für Publisher-Leser der Vergleich mit Illustrator natürlich naheliegt, ist dieser nur eingeschränkt möglich, denn das Inkscape-Projekt beabsichtigt (ebenso wie das zugrunde liegende SVG-Format), möglichst alle 2D-Vektor-Anwendungsszenarien ab­zudecken. Neben Illustrator sind hier also verwandte Anwendungen wie MS Visio, Kartografieprogramme und -systeme, Software für technische Illustrationen oder Adobe Flash zu nennen. Inkscape 0.91 bedient alle diese Zielgruppen.

Geschwindigkeit

Die wohl wichtigsten Neuerungen betreffen Interna, anhand deren Inkscape nun deutlich schneller läuft. Wer jemals versucht hat, mit Inkscape hochkomplexe Vektorgrafiken zu er-stellen, wird festgestellt haben, dass das Programm selbst bei optimaler Hardwareausstattung zuweilen in die Knie ging und mitunter das gesamte Betriebssystem in den Schneckengang gezwungen hat.

Obwohl noch einige dieser Erblasten vorhanden sind, lässt sich feststellen, dass sich die Performance deutlich verbessert hat. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass Inkscape 0.91 endlich 64-Bit-Unterstützung auf allen Plattformen bietet.

Des Weiteren verwendet Inkscape nun die Render-Bibliothek Cairo zur Bildschirmdarstellung, was zu einem erheblichen Geschwindigkeitsgewinn führt. Ausserdem kann Inkscape in der neusten Version alle vorhandenen Prozessorkerne nutzen. Mithilfe eines Graustufenmodus können Anwender ihren Rechner zusätzlich entlasten.

Mac OS X 11 – nach wie vor

Während sich Linux- und Windows-Anwender längst mit unterschiedlichen Bedienkonzepten und ästhetischen An- und Zumutungen abgefunden haben, konnte Apple stets auf die optische Konsistenz von Mac-OS-Anwendungen verweisen. Seit Mac OS aber ein UNIX ist, sind zahllose Programme auf das Apple-System portiert worden, die das Look & Feel einer anderen GUI mitbringen. Inkscape ist dabei keine Ausnahme, weswegen sich Benutzer von Mac OS X bis auf Weiteres mit einem optischen Fremdkörper abfinden müssen. Unter Windows sieht es zwar ähnlich aus, aber immerhin gibt es dort einige Optionen, das Programm wie ein «echtes» Windows-Programm funktionieren zu lassen.

Massarbeit

Grosse Fortschritte hat Inkscape 0.91 bei der Präzision gemacht, denn es wurden diesbezüglich viele Verbesserungen und Verfeinerungen programmiert. Hier ist etwa die Möglichkeit zu nennen, in Drehfeldern (spin boxes) mathematische Berechnungen und entsprechende Aktionen durchzuführen, beispielsweise 20 * 3 oder 5 + 6 mm.

Äusserst nützlich ist das neue Messwerkzeug, mit dem sich schnell Informationen über Grösse und Position von Objekten und Haltepunkten ermitteln lassen. Sehr hilfreich sind auch die neuen Optionen für Hilfslinien: Jede Hilfslinie kann nun individuell benannt werden und eine benutzerdefinierte Farbe annehmen.

Weitere Präzisionsverbesserungen finden sich in jenen klassischen Gestaltungsbereichen, in denen es um die Anwendung von Logik geht. So bietet Inkscape 0.91 die Möglichkeit, die Position von Objekten in der Reihenfolge ihrer Auswahl durch den Benutzer auszutauschen. Des Weiteren lässt sich die vertikale Anordnung von ausgewählten Objekten nunmehr im Uhrzeigersinn rotieren.

Suchen und ersetzen ist ein anderes Anwendungsfeld der Logik, und auch hier bietet Inkscape 0.91 viel Nützliches, denn die neue Funktion Select Same ermöglicht es, Objekte anhand diverser Kriterien auszuwählen.

Typo

In Sachen Typografie hat Inkscape 0.91 im Vergleich zur Vorversion gewaltig aufgeholt. So haben die Entwickler endlich zur Kenntnis genommen, dass die meisten Anwender die Fontgrösse in Postscript-Punkten (pt) beurteilen, weshalb dies nun die voreingestellte Masseinheit ist. Hilfreich ist ausserdem die Funktion, die zuletzt verwendete Schrift zuoberst in der Liste der verfügbaren Fonts anzuzeigen.

Überfällig war auch ein Mechanismus zur Erkennung fehlender Schriften, wenn diese nicht eingebettet sind, sowie eine Ersetzungsfunktion. Die neue Version von Inkscape holt all dies nach.

Bücherei

Mit der neuen und flexiblen Symbolbibliothek rüstet Inkscape 0.91 endlich ein in anderen Vektorprogrammen längst übliches Feature nach, und es werden auch gleich fünf Dateien für verschiedene Einsatzzwecke mitgeliefert. Indes sollte, wer einen Umstieg auf Inkscape erwägt, beachten, dass das Programm bisher nur SVG-Bibliotheken sowie MS-Visio-Schablonen verarbeiten kann. Was Illustrator-Bibliotheken im EPS- oder AI-Format angeht, herrscht nach wie vor Fehlanzeige.

Kreativwerkzeuge

Die Zahl der mit Inkscape ausgelieferten Plug-ins war schon seit Jahren bemerkenswert, nicht zuletzt, weil sich neue Funktionen mittels der leicht zu erlernenden Programmiersprache Python ergänzen liessen. Auch die neue Inkscape-Version kann hier mit attraktiven Neuerungen aufwarten. Diese sind jedoch zu zahlreich, um hier aufgelistet zu werden. Weitere Ergänzungen findet man unter bit.ly/inkscape-neuerungen.

Gastfreundlichkeit

Schon in Inkscape 0.48 war die Liste der Importformate lang, und es bedurfte schon einer gewissen Bildschirmgrösse, um im Import-Dialog nicht scrollen zu müssen. Mit Version 0.91 hat sich die Zahl der unterstützten Formate noch erhöht, etwa durch den Filter für Microsofts Visio-Dateien. Wichtiger sind aber die Verbesserungen bereits vorhandener Importer, insbesondere für native CorelDraw- und GIMP-Dateien (XCF) sowie WMF und EMF.

Eine weitere interessante Neuerung ist die Integration von «libdepixelize», einer Programmbibliothek, die das Umwandeln von niedrig auflösenden Grafiken wie Icons in bearbeitbare Vektoren erlaubt.

Ausfuhr

Sieht man von dem nach wie vor problematischen PDF-Export (siehe weiter unten) ab, so ist die Palette der Exportoptionen beeindruckend.

Es spielt beinahe keine Rolle, für welchen Zweck man das Programm verwendet, denn mit Ausnahme der Druckvorstufe exportiert Inkscape brauchbare Daten für die meisten denkbaren Anwendungsbereiche. So lassen sich Vektoranimationen und RIA-Kreationen in den Formaten Flash XML (FXG), Synfig (SIF), XHTML (mit MS-Silverlight-Kompatibilität) und HTML 5 exportieren. In diesem Zusammenhang verdient auch die neue »Guillotine«-Erweiterung Erwähnung, die es ermöglicht, eine SVG-Vektordatei in eine Webseite mit niedrig auflösenden PNG-Dateien zu verwandeln. Bemerkenswert sind darüber hinaus die G-Code-Werkzeuge, mit deren Hilfe man Steuerungscode für Graviermaschinen erzeugen kann.

Druckvorstufe?

Dem eigenen Anspruch, PDF-Dateien für den professionellen Druck produzieren zu können, wird Inkscape auch in der neuesten Version nicht gerecht. Zwar wurde eine Option für Beschnittzugaben implementiert, aber es fehlen nach wie vor eine Kontrolle über diverse Ausgabeoptionen sowie eine Auswahl der für den Druck benötigten PDF-Variante. Inkscapes PDF-Export produziert nach wie vor reine RGB-Dateien, weswegen dem Export CMYK- und Schmuckfarben zwangsläufig zum Opfer fallen.

Fazit

Bei Inkscape 0.91 handelt es sich um eine gelungene Weiterentwicklung der Vorversion, und der Versionssprung ist gerechtfertigt. Angesichts der heutigen Vielfalt verfügbarer Medien erscheint auch die Prioritätensetzung der Entwickler als sinnvoll, aber die fehlende Kompatibilität zu existierenden Print-Workflows hinterlässt einen unangenehmen Beigeschmack.