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Das Textsatzmonster

Geeignete Voreinstellungen treffen, schreiben und schliesslich ein Dokument beliebigen Umfangs als PDF exportieren, wobei die Software den optimalen Satz vornimmt. Tönt zu gut, um wahr zu sein? Doch genau dies bietet das Open-Source-Programm LyX.

christoph schäfer Adobe bie­tet FrameMaker nur noch für Windows an, aber Mac- und Linux-Anwender standen bezüglich einer Portierung auf ihre Plattform ohnehin niemals auf der Rechnung des Herstellers. Für komplexen Massensatz ohne dahinterliegende Client-Server-Architektur und mit individueller Kontrolle über das Ergebnis gibt es aber eine mächtige, wenn auch gewöhnungsbedürftige Alternative, nämlich LyX. Im Gegensatz zu dem inzwischen allgegenwärtigen WYSIWYG-Paradigma verfolgt LyX ein semantisches Prinzip: WYSIWYM – What you see is what you mean.

Konkret bedeutet dies, dass Anwender beim Verfassen oder Optimieren nicht das Ausgabeergebnis vor sich sehen, sondern nur Hinweise auf die Rolle einzelner Textelemente sowie bestimmter Satzanweisungen. Auch Tabellen oder Formeln werden nicht wie in der Ausgabe angezeigt, sondern nur in «Rohform». Was auf den ersten Blick kontraintuitiv anmutet, hat jedoch einen guten Sinn, denn auf diese Weise lassen sich selbst riesige Dokumente mit mehreren tausend Seiten sehr schnell bearbeiten, ohne dass selbst ein älterer Computer in die Knie geht.

Installation

Während Linux-Anwender LyX problemlos über ihren Paketmanager installieren können, müssen Windows- und Mac-Nutzer das Programm von der LyX-Website herunterladen. Mac-Anwender müssen vor der Installation von LyX erst das Programm MacTeX installieren, denn LyX benötigt eine aktuelle LaTeX-Version (siehe Publisher 4-14) für die Satzausgabe. Windows-Nutzer sollten am besten die neueste «Bundle»-Ausgabe verwenden, die be­reits die Windows-Variante von LaTeX – MiKTeX – enthält.

Während der Installation oder dem ersten Start sollte unbedingt eine Internetverbindung bestehen, weil die LaTeX-Komponente noch zusätzliche Dateien wie Sprachpakete herunterlädt. Auch nach der Installation empfiehlt es sich, den Menüpunkt Werkzeuge > Neu konfigurieren aufzurufen. LyX oder LaTeX werden dann eventuell Pakete nachladen. Darüber hinaus könnte die Verwendung von bestimmten LyX-Funktionen das Herunterladen weiterer Daten erzwingen.

Importbeschränkungen

Wenn es um den Import gängiger Dokumentformate geht, gibt LyX sich zugeknöpft: Weder Textverarbeitungs- noch Layoutdateien können importiert werden. Lediglich LaTeX-Dateien sowie einige exotische Formate lassen sich laden. Für Umsteiger, die von FrameMaker her kommen, existiert aber ein Script, mit dessen Hilfe man Dateien in dessen Austauschformat MIF nach LyX konvertieren kann (bit.ly/MIF2LyX). Ansonsten bleibt nur das Speichern als Plain Text in der Originalanwendung.

Klassengesellschaft

Ein Erbe des im Hintergrund arbeitenden LaTeX ist die Arbeit mit bestimmten so genannten Dokumentklassen, das heisst vorkonfigurierten Dokumenteigenschaften wie Seitengrösse, Randstege, Schriftarten usw. Sie entsprechen Vorlagen im hergebrachten Sinn und umfassen Basiskategorien wie Buch, Artikel, Brief und sogar Poster oder Präsentationen.

In LyX kann man Klassen auf zweierlei Weise verwenden, nämlich einerseits über Neu > Vorlage. Andererseits lässt sich jedem existierenden Dokument per Dokument > Einstellungen > Dokumentklasse eine neue Klasse zuweisen. Dies ist besonders praktisch, wenn ein Text in verschiedenen Medien gedruckt werden soll, denn LaTeX enthält Hunderte Klassen mit den Vorgaben massgebender Verlage.

Massgeschneidert

Obwohl – oder gerade weil – die Kontrolle über den Textsatz der direkten Kontrolle der Anwender entzogen ist, lässt sich jedes Dokument unter Dokument > Einstellungen bis in die kleinsten Details konfigurieren. Die Struktur der Einstellungsmöglichkeiten mag auf den ersten Blick etwas ungewohnt erscheinen, ist jedoch aufgrund des LaTeX-Hintergrunds nachvollziehbar.

Ansichtssache

Da LyX kein Layout anzeigt, fehlt die Möglichkeit zum Vergrössern oder Verkleinern des Fensterinhalts. Dafür gibt es eine ungemein praktische Option, die vor allem beim Bearbeiten langer Dokumente hilfreich ist: das Aufteilen der Dokumentansicht in mehrere Fenster (horizontal oder vertikal). Auf diese Weise kann man eine Datei an mehreren Stellen zugleich bearbeiten, ohne scrollen zu müssen. Auch lassen sich mehrere Dokumente neben- oder untereinander im selben Fenster öffnen.

Textstruktur

Für den Textsatz ist entscheidend, dass dem Programm mitgeteilt wird, welcher Textabschnitt welche strukturelle beziehungsweise semantische Funktion erfüllt. Der optimale Satz wird dann vom Programm anhand der Voreinstellungen für die Ausgabe errechnet. Zu diesem Zweck enthält LyX eine Auswahlliste am oberen linken Rand des Programmfensters, anhand derer man Text die gewünschte Funktion zuweisen kann.

Darüber hinaus bietet LyX alles, was man von einem Programm zum Erzeugen komplexer Dokumente erwarten kann, so etwa Quer- oder Abbildungsverweise, Inhalts- oder Stichwortverzeichnisse, lebende Kolumnentitel und vieles mehr.

Typografie

Die typografische Qualität von LaTeX und dessen Nachfolgern ist unumstritten – selbst InDesign verwendet die frei zugänglichen Textsatzalgorithmen dieses Satzveteranen.

LyX bietet Zugang zu den meisten mikrotypografischen Optionen von LaTeX, die in ihrer Vielfalt viele FrameMaker- oder InDesign-Anwender erstaunen dürften. Dass sich Sprache, Anführungszeichen oder Zeilendurchschuss einstellen lassen, dürfte niemanden überraschen. Wenn man jedoch den Menüpunkt Einfügen aufruft, findet man dort eine Fülle an Optimierungsfunktionen, die ihresgleichen sucht.

Gleitobjekte

Grafiken lassen sich in vielen gängigen Austauschformaten wie TIFF oder PDF in LyX einfügen. Dabei stehen für Pixelgrafiken dieselben Funktionen (Skalieren, Rotieren usw.) zur Verfügung wie in einem Layoutprogramm, nur wirken sich diese erst bei der Ausgabe aus, das heisst, ein Bild wird in LyX im Originalzustand angezeigt.

In der Ausgabe erscheinen direkt eingefügte Grafiken ebenso wie Tabellen oder Formeln an der Stelle im Text, an der sie der Reihenfolge nach stehen, also beispielsweise zwischen zwei Absätzen. Dies liefert nicht unbedingt ein ideales Ergebnis, etwa wenn ein Bild auf die nächste Seite verschoben werden muss und so ein unerwünschter Leerraum entsteht. Dieses Problem kann man umgehen, indem man Grafiken und ähnliches zu so genannten Gleitobjekten macht. Für diese Form von Objekten ermittelt LyX dann für die Ausgabe den optimalen Ort im Layout, und zwar in der Nähe des Einfügepunktes im Dokument.

Export

Beim Export zeigt sich LyX deutlich flexibler als beim Import. Neben dem zu erwartenden Export nach LaTeX stehen unter anderem MS Word, OpenDocument Text und HTML zur Verfügung. Am wichtigsten ist jedoch der PDF-Export, für den etliche Optionen bereitstehen. Indes muss hervorgehoben werden, dass LyX kein Farbmanagment bietet. Daher ist es auch nicht möglich, eine PDF-Version (beispielsweise PDF/X-3) auszuwählen, sodass bei der Verwendung von Farbgrafiken eine Nachbehandlung in einem Programm wie Acrobat notwendig werden könnte.

Fazit

LyX erfordert von Layoutern ein grundsätzliches Umdenken und wartet mit einer steilen Lernkurve auf. Dabei wird das Erlernen des Umgangs mit LyX durch eine erstklassige Dokumentation erleichtert, die im Programm selbst enthalten ist. Hat man LyX aber erst einmal im Griff, wird man mit erstklassiger Typografie und einer deutlich gesteigerten Produktivität belohnt.

www.lyx.org