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Einmal zeichnen bitte, jetzt digital

Digitale Eingabeger�te gibt es inzwischen unz�hlige. Dass nun ausgerechnet Adobe eigene Ger�te auf den Markt bringt, erstaunt auf den ersten Blick, zeigt aber den Trend zu greifbaren L�sungen in einer zunehmend «dematerialisierten» Arbeitswelt. 

joely tafanalo Ein ungläubiges Raunen ging im Mai 2013 durch die Menge des Nokia Theater in L.A., als an der Adobe MAX erstmals in der Firmengeschichte Hardware präsentiert wurde. David Wadhwani (Geschäftsführer Digital Media) stellte zu­sammen mit Michael Gough (Leiter Experience Design) frühe Prototypen der bis dato Project Napoleon und Project Mighty genannten Geräte vor. Dies in Anspielung auf die bescheidenen Masse und das dennoch mächtige Innenleben.

An diesem Morgen war auch der Autor vor Ort, der sich wie viele Anwesende fragte, wer denn auf einen neuen Zeichenstift gewartet hatte.

Die Neugier auf das Angekündigte obsiegte gegenüber der Skepsis, und so fand genau ein Jahr später eine schlichte Kartonverpackung den Weg über den Atlantik auf den Büroschreibtisch.

Lange mussten sich interessierte Kreise gedulden. Ab sofort ist die im Mai 2014 lancierte Hardware auch offiziell in Schweizer Ateliers lieferbar. Bei vielen Gestaltern sind herkömmliche Zeichenwerkzeuge noch immer hochaktuell. Grosser Beliebtheit erfreuen sich auch Grafik-Tablets von Wacom und die entsprechenden Stifte. Einziger Nachteil: Man zeichnet auf dem Pult und schaut auf den Screen.

Die zwei Werkzeuge Adobe Ink und Adobe Slide sind jedoch für das Zeichnen direkt auf dem iPad konzipiert. Nach der Einführung der gleichermassen beliebten wie umstrittenen Creative Cloud bringt nun Adobe die analoge und die digitale Welt einen Schritt näher zusammen. Einzeln betrachtet, könnte man meinen, dieser Schritt sei Effekthascherei. Doch im Doppel mit den mobilen Apps zeigt sich das wahre Potenzial. Als «Publisher mit Apfel» ist man bereits an tolle Verpackungen gewöhnt. Die Anmutung von Adobe Ink & Slide fällt noch vor dem Öffnen positiv auf. Was beim ersten Anfassen des Inhaltes sofort beeindruckt, ist die schlichte Linienführung im Aluminiumdesign und die gute Ergonomie aufgrund der dreiseitig gedrehten Form des Stiftes. Die Mini-Bedienanleitung (auf Papier) ist schnell überflogen und ein kurzer Druck auf den einzigen Knopf schaltet Adobe Ink ein. Mitgeliefert wird ein Micro-USB-Kabel, das den Stift-Akku über die Hartplastikhülle mit Strom versorgt.

Ink – der Stift

Der neue cloudbasierte Stift trägt den Namen Adobe Ink. Ein durchaus eleganter Eingabestift für das Zeichnen auf iPads ab vierter Generation (auch iPad mini). Der Stift liegt sofort gut in der Hand, auch für Linkshänder. Vor dem ersten Gebrauch muss der Stift über das entsprechende Menü-Icon mit dem Gerät respektive der individuellen Adobe-ID verbunden werden.

In den Voreinstellungen kann definiert werden, in welcher Stellung und mit welcher Hand gezeichnet wird. Auch kann Adobe Ink einen eigenen Namen tragen und entsprechend der Lieblingsfarbe leuchten. Das freie Zeichnen erweist sich als äusserst geschmeidig, und je nach App können die Malwerkzeuge in Grösse und Deckkraft reguliert werden.

Slide – das Lineal

Das zweite Gerät in der Schachtel ist Adobe Slide. Es braucht keinen Strom. Trotz seiner Grösse ist das kleine Lineal praktischer Helfer beim Zeichnen von präzisen Linien und Formen. Um verschiedene Grundformen zu zeichnen, genügt ein Klick auf den einzigen Knopf, welcher Formen einblendet. Den perfekten Kreis hat man so in Sekunden in die richtige Grösse gezogen und mit dem gewählten Pinsel gezeichnet. In der Praxis dürfte es das digitale Lineal allerdings schwierig haben, da in der Menüleiste der Apps sein immaterieller Zwilling stets in Griffweite ist. Auch ertappte ich mich schon dabei, nur mit dem Adobe Ink aus dem Haus zu gehen.

Die Apps

Beide Geräte harmonieren am besten mit den hauseigenen mobilen Apps oder aber mit der App eines anderen Anbieters. Mit Illustrator Draw (ehemals Adobe Ideas) geht vor allem das freie Zeichnen mit verschiedenen Pinselspitzen oder Formen gut von der Hand. Mit Illustrator Line steht ein ähnlicher Funktionsumfang zur Verfügung, jedoch ermöglicht die App ein präziseres perspektivisches Zeichnen. Als persönlicher Favorit zum Skizzieren gilt Photoshop Sketch. Mit Brush oder Shapes werden Pinsel und Formen kreiert, welche danach über den Stift abgerufen werden können.

Sämtliche mobilen Apps von Adobe sind kostenlos im iTunes Store erhältlich. Auf der Seite von Creative SDK (Software Development Kit) finden sich weitere spannende Apps anderer Entwickler. Auch das Traditionsunternehmen Moleskine hat kürzlich ein Notizbuch in Kombination mit einer App mit Creative-Cloud-Verknüpfung lanciert.

Die Alternativen

Für die Herstellung von Ink und Slide hat Adobe die auf digitale Stifte ­spezialisierte Firma Adonit beauftragt, welche die Hardware auch verkauft.

Interessanterweise kommt die grösste Konkurrenz mit dem Jot Touch direkt aus dem Hause Adonit. Der Zeichenstift mit der patentierten Pixelpoint-Spitze verfügt über eine Druckempfindlichkeit von 2048 Stufen und lädt sich über einen Adapter direkt am USB-Port. Selbst der Zugriff via Bluetooth LE auf die Creative-Cloud-Dienste teilt sich der Jot Touch mit dem «Bruder» von Adobe. Ein kleines Highlight sind die programmierbaren Shortcut-Buttons, mit welchen Ink nicht aufwarten kann. Für Preissensitive oder alle, die ohne physisches Lineal auskommen können, lohnt sich deshalb ein Vergleich durchaus.

Fazit

Wer neben Druckempfindlichkeit auch Neigung und Drehung des Stiftes oder die Stiftspitzen wechseln möchte, kommt weiterhin nicht um einen Wacom-Stift herum. Für einfaches Zeichnen ohne Zusatzfunktionen kommen Tablet-User gut mit Alterna­tiven über die Runden. Wie bei der Wahl des richtigen Smartphones: Wer die User Experience eines Systems liebt, wählt tendenziell auch das artverwandte Gerät zum Telefonieren. Wer die Desktop-Programme schätzt, wird demnach eher zu Adobe Ink & Slide und den mobilen Apps greifen.

Adobe Ink & Slide sind seit Mitte Dezember 2014 endlich auch in Europa erhältlich. Der Preis liegt bei knapp 200 Franken (exkl. MWSt und Versand). Der Vertrieb erfolgt momentan nur über Internet. Am Verkauf interessierte Reseller melden sich direkt bei ihrem Distributor.

Weitere Infos

Vorgängig testen kann man Adobe Ink & Slide wie erwähnt (noch) nicht. Live zu sehen sind sie aber im März am Digicomp Publishing Day.

Voraussetzungen:
iPad 4. Genera­tion, Apps aus iTunes Store, Creative-Cloud-Mitgliedschaft, Freude am Zeichnen.

Links:
Adobe Ink & Slide und SDK: adobe.com, creativesdk.adobe.com, bestellen bei adonit.net.

Der Autor

Joely Tafanalo – Print- und Interaction-Designer, Be­­rater und Community Pro­­fessional für Adobe Systems. Inhaber von Toughmedia (Training und Beratung für Kreativsoftware), Kursleiter bei diversen Bildungseinrichtungen und Verbänden.

Kontakt: info@toughmedia.ch