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Solides Fundament oder bloss Sand�?

Im Vergleich zur aktuellen Bildungsverordnung soll die Polygrafenausbildung stärker auf die Konzeption und Gestaltung auf sehr hohem Niveau fokussiert werden. Moderne und zukunftsweisende Techniken für eine effiziente Medienproduktion stehen abseits.

Fritz maurer Die verbandsinterne Vernehmlassungsphase für die über-arbeitete Bildungsverordnung der Polygrafinnen und Polygrafen, die 2014 in Kraft treten soll, ist Ende 2012 bereits abgeschlossen. Seit der Einführung des neuen Berufes in der Medienvorstufe im Jahr 1995 ist dies bereits die vierte Revision. Sowohl die technischen Möglichkeiten in der Kommunikation als auch die Struktur der Branche haben sich in diesem Zeitraum gewaltig entwickelt und verändert. Was ist aus den Erfahrungen in der Ausbildung und dem Wissen über den Strukturwandel in den Entwurf zur neuen Bildungsverordnung eingeflossen?

Vordergründig fällt der Wegfall der Fachrichtungen Medienproduktion und -gestaltung und die Einführung der Schwerpunkte Print und Screen auf. Was hat sich aber inhaltlich am Ausbildungsprofil geändert? Betrachten wir dazu die vorliegende Fassung (Stand Oktober 2012) etwas genauer und vergleichen die Lektionentafel für die Berufsfachschulen als Indikator für die Gewichtung der Ausbildung.

Der Kompetenzbereich Gestaltung wird mit einem fast gleich grossen Anteilwie Produktion/Technik einen hohen Stellenwert haben. Auf den ersten Blick sieht das nach Status quo aus, je nach Fachrichtung gibt es leichte Verschiebungen. Der Trend wird deutlich, wenn man die Zahl der Lernenden in den bisherigen Fachrichtungen berücksichtigt.

Für die grosse Mehrheit der Lernenden soll die Gestaltung insgesamt ausgebaut und die Produktion/Technik abgebaut werden. Doch das ist nicht alles. Im Vergleich zur aktuellen Bildungsverordnung soll die Gestaltung nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ ausgebaut werden. Das Anspruchsniveau in der Gestaltung wird massiv erhöht, denn für über 80 % der Leistungsziele ist neu die zweithöchste Taxonomiestufe vorgegeben!

Ist das die adäquate Reaktion auf die problematischen Erfahrungen mit der Gestaltung der letzten 20 Jahre? Über den Ausbau der Gestaltung könnte man sich ja freuen, denn visuell kreatives Arbeiten ist für viele Jugendliche etwas Erstrebenswertes. Obschon die Fakten eindeutig sind, versichern alle angesprochenen Mitbeteiligten der neuen Verordnung das Gegenteil.

Wie auch immer – betrachten wir die Situation und das Kerngeschäft in den Ausbildungsbetrieben für Polygrafen. Aktuell werden im Grossraum Zürich über 3/4 der Polygrafen in Druckereien und Premedia-Betrieben ausgebildet. Nur gerade knapp 20 % der Lehrbetriebe, die Polygrafen ausbilden, erwähnen in ihrem Portfolio den Bereich Gestaltung/Design. 80 % der Lehrbetriebe sind produktions- beziehungsweise drucktechnisch orientiert und verfügen weder über Gestaltungsaufträge noch über das dafür notwendige Fachpersonal.

Gestaltung – Luftschloss in der betrieblichen Realität

In den Artikeln 1 «Berufsbild» und 4 «Handlungskompetenzen» der Bildungsverordnung ist die Gestaltung mediengerechter Publikationen an erster Stelle aufgeführt, noch vor der mediengerechten Aufbereitung. Im Bildungsplan ist das Berufsbild mit «die Polygrafin und der Polygraf beschäftigen sich mit der Gestaltung von Publikationen und deren Aufbereitung für Print- und Screenmedien» beschrieben. Auch das verdeutlicht die starke Gewichtung der Gestaltung in der revidierten Bildungsverordnung.

Wie sollen die vorwiegend technisch orientierten Ausbildungsbetriebe gestalterische Handlungskompetenzen ausbilden wie «Polygrafen führen zielorientierte und kundenspezifische Recherchen durch, um gestalterische Spezifikationen für Print oder Screen festzulegen und zu visualisieren»?

Dafür gibt es ja noch die Berufsfachschulen. Die Situation ab 2014 wird die gleiche wie bisher sein, ausschliesslich an den Berufsfachschulen wird gestalterische Kompetenz vermittelt.

Für die grosse Mehrheit der Lernenden ist das völlig losgelöst von der praktischen Tätigkeit im Betrieb und damit etwa gleich effizient wie Schwimmunterricht in der Sahara.

Das Tragische dabei ist, dass jungen Leuten bei der Berufswahl zum Polygrafen suggeriert wird, sie können nach der Ausbildung gestalterisch tätig sein. Mit dem Entwurf zur revidierten Bildungsverordnung wird das Luftschloss Gestaltung im Vergleich zur aktuellen Bildungsverordnung weiter ausgebaut.

Vergleicht man die Ausbildung und Qualifikation der rund 14 000 Beschäftigten in den Bereichen Kommunikations-, Grafikdesign und Werbegestaltung mit den rund 3000 Stellen in der Druckvorstufe, ist es illusorisch, zu glauben, dass Polygrafen jemals eine Anstellung mit einer professionellen gestalterischen Tätigkeit erhalten werden. Abgesehen von wenigen Ausnahmetalenten, die sich entsprechend weiterbilden.

Auch die Anzahl Polygrafen, die einen Lehrgang an einer Fachhochschule für Gestaltung und Design absolvieren, sprechen für sich. In den drei Klassen für den Bachelor-Lehrgang «Graphic Design» an der Hochschule für Design&Kunst in Luzern ist ein einziger Polygraf eingeschrieben.

Weshalb dieser Ausbau der Gestaltung, wenn die deutliche Mehrheit der Ausbildungsbetriebe dies nicht in ihrem Produktionsportfolio hat und nicht ausbilden kann? Weshalb beschränkt man sich realistischerweise nicht auf die Grundlagen der Gestaltung?

Produktion/Technik – kaum etwas Neues

Der Handlungskompetenzbereich für die Produktion/Produktionstechnik wird mit «Aufbereiten mediengerechter Publikationen» bezeichnet. Schon der Begriff «Aufbereiten» tönt nach Mikrowelle, wo tiefgekühlte Mahlzeiten regeneriert werden. Abgesehen davon, dass für 3/4 der Lernenden nach bisheriger Verordnung die Ausbildung in diesem Bereich ab 2014 reduziert werden soll, sind einige Auffälligkeiten im Bildungsplan bemerkenswert.

Bestimmte Leistungsziele werden ganz ausführlich beschrieben, andere werden sehr offen gehalten. Beim Leistungsziel «Texte bearbeiten» sind sehr akribisch zwanzig konkrete Punkte aufgeführt. Bei modernen, zukunftsgerichteten Produktionstechnologien hingegen sind die Leistungsziele oft sehr unverbindlich formuliert. Zum Beispiel «Sie optimieren über alle Medien hinweg die Farbkonsistenz» oder «Polygrafen stellen den Publishingprozess mit dem aktuellen Ausgabeworkflow sicher». Was soll man darunter verstehen? Den Ausgabeworkflow sicherstellen – muss ich da selbst eingreifen können oder genügt ein Anruf beim Lieferanten? Und was bedeutet «aktueller Workflow»? Kann das auch derjenige aus 1980er-Jahren sein, der im Betrieb noch aktuell ist? Und kann mir jemand erklären, was mit «Optimieren der Farbkonsistenz» gemeint ist?

Bemerkenswert ist auch, dass die Handlungskompetenz «Grafiken erstellen oder bearbeiten» stark ausgebaut werden soll, aus welchem Grund auch immer. Die formulierten Ansprüche bei den Leistungszielen sind teilweise sehr hoch. Zum Beispiel «Polygrafen visualisieren Zahlen, Werte und Statistiken zu aussagekräftigen statischen oder interaktiven Diagrammen unter Berücksichtigung des Gestaltungskonzeptes usw.». Dies ist ein Bereich, der an Fachhochschulen für Gestaltung und Design als Schwerpunkt angeboten wird. Ist das für eine Polygrafenausbildung unter professionellen Aspekten überhaupt realistisch ?

Die Diskrepanz zwischen den sehr ausführlich beschriebenen Leistungszielen in den Bereichen Typografie und Bild und den oberflächlich und schwammig formulierten Zielen bei den zukunftsgerichteten Produktionsmethoden ist symptomatisch. Aufschlussreich ist hierbei auch, dass von den insgesamt 29 Leistungszielen für die «mediengerechte Aufbereitung von Publikationen» nur gerade 3 moderne und zukunftsträchtige Produktionstechnologien betreffen. Und weshalb ist Projektmanagement völlig inexistent, obschon man weiss, dass grössere Medienproduktionen projektmässig abgewickelt werden ?

Informatik – ein Staubkorn

Interessanterweise sind die Leistungsziele Informatik dem Handlungskompetenzbereich der Gestaltung zugeordnet. Wer aber redet denn da von Leistung und Zielen? Was in diesem Abschnitt für die Berufsfachschule und die Betriebe formuliert ist, könnte man sich wirklich sparen. Das «EVA-Prinzip», die «Bestandteile eines Computers beschreiben» – was soll das, wir leben doch im Jahr 2013! Die Ersteller dieser Leistungsziele sollten sich vorab den Lehrplan für die Volksschule des Kantons Zürich anschauen.

Und ob Sie es glauben oder nicht: Das wirklich einzige Leistungsziel für den Lehrbetrieb in der Informatik ist «Polygrafen nutzen das betriebliche Netzwerk und halten sich an die betrieblichen Regeln».

Bereiche, in denen es in der Informatik wirklich zur Sache geht, fehlen vollständig. Themen wie Auszeichnungs-, Scriptsprachen und Programmierungen. So ist es nicht verwunderlich, dass das Leistungsziel «Polygrafen nutzen Datenbanken und die Auszeichnungssprache zur Automatisierung, um datenintensive Anwendungen und personalisierte Publikationen herzustellen» ausschliesslich Sache des Lehrbetriebes ist. Ein fundiertes theoretisches Fachwissen in diesem Bereich ist anscheinend nicht nötig – offenbar geht das ja alles per Knopfdruck. Interessant ist nur, dass Betriebe, die solche Technologien einsetzen, in der Regel qualifizierte Informatiker beschäftigen.

Konkrete Leistungsziele bezüglich der Automatisierung von Teilprozessen in den Programmen für die Layout- und Bildbearbeitung sucht man vergeblich.

Sprache – zurück in die 1990er

Beim Sprachunterricht fällt auf, dass ab 2014 das Englisch ersatzlos gestrichen werden soll. Die deutsche Sprachlehre bleibt in etwa unverändert. Aufgewertet wird hingegen die zweite Landessprache. Ich höre bereits die Stimmen, die sagen, dass dies in der Schweiz aus regionalpolitischen Überlegungen unverzichtbar ist. Ich bin mir da nicht so sicher. In der Volksschule hat die französische Sprache den Stellenwert, der unbestritten gerechtfertigt ist. In einer Berufslehre während vier Jahren französische Grammatik und Orthografie als regionalpolitische Beruhigungspille zu büffeln, ist meiner Ansicht nach nicht gerechtfertigt. Wenn es denn so wichtig und unverzichtbar ist, weshalb gibt es für den Betrieb, also für die praktische Anwendung, nicht ein einziges Leistungsziel? Der Verzicht auf das Englisch ist für eine zukunftsgerichtete Ausbildung nicht nur fragwürdig, sondern ganz einfach falsch.

Fazit

Anlässlich einer Veranstaltung im Februar 2012 zum Thema der zukünftigen Ausbildung von Polygrafen hat der Verantwortliche einer Produktionsabteilung für eine grosse Werbeagentur Folgendes gesagt: «Es ist ein Trugschluss, wenn man meint, Polygrafen könnten im Umfeld einer Werbeagentur viel gestalten. Ein Polygraf muss einem Grafiker technisch in allen Belangen überlegen sein. Nur dann hat der Polygraf seine Berechtigung und wird auch gefragt sein.» An der gleichen Veranstaltung hat der Produktionsleiter einer grossen Druckerei postuliert: «Die Polygrafen sollten die Spezialisten für Text und Bild sein. Meiner Meinung nach sind sie es jetzt nicht. In der Text- und Bildbearbeitung braucht es Fachleute mit vertieften Qualifikationen und einem hohen Qualitätsbewusstsein.»

Die vorliegende Fassung der revidierten Bildungsverordnung ist immer noch geprägt vom Zusammenschluss der beiden Berufe Typograf und Lithograf Mitte der 1990er-Jahre. Von den massiven Veränderungen in der Branche, der Technologie und den Produktionstechniken ist nur sehr wenig zu spüren.

Bereits vor gut 30 Jahren haben sich die Druckereien und Vorstufenbetriebe langsam, aber sicher aus dem Bereich der Gestaltung verabschiedet. Seit einigen Jahren sind zudem viele Betriebe mit der Situation konfrontiert, dass das eigentliche Kerngeschäft der Polygrafen, die Herstellung von Dokumenten, die Layout-, Text- und Bildbearbeitung zunehmend in Dienstleistungsbetrieben erfolgt. Deshalb arbeiten heute schon vorsichtig geschätzte 50 % der ausgebildeten Polygrafen in Firmen, die nicht der Druckindustrie oder der grafischen Branche angehören.

Im Kontext mit den Realitäten in den Betrieben sind die Prioritäten der neuen Bildungsverordnung nicht nachvollziehbar. Wie kann man sich den klaren Fakten derart verschliessen?

Weitsicht und Mut, um die vorhandenen Luftschlösser auf den Boden der Realität zu holen, sind dringend nötig. Vor allem aber braucht es den Willen dazu. Den Willen, sich mit der aktuellen und der zukünftig wahrscheinlichen Situation in der Arbeitswelt der Druckindustrie realistisch auseinanderzusetzen. Den Willen, dem Polygrafenberuf ein klares Profil zu geben, damit interessierte junge Leute so ausgebildet werden, dass sie sich mit ihren Kompetenzen erfolgreich in die Arbeitswelt integrieren können. Dann werden Polygrafen als wertvolle Mitarbeiter in der Medienproduktion auch in Zukunft gefragt sein.

Wie geht es weiter ?

Mit den Erfahrungen der vergangenen Jahre bin ich alles andere als euphorisch und erlaube mir eine Prognose über den Verlauf der Inkraftsetzung der revidierten Bildungsverordnung. Die Vernehmlassungsfrist ist wie üblich kurz. Es werden sicherlich einige Korrekturen und Änderungen vorgeschlagen. Weil alles Einzelmeinungen sind, werden die zuständigen Berufsverbände und die Arbeitsgruppe keinen Anlass sehen, grosse Korrekturen vorzunehmen. So wird der vorliegende Entwurf mit kleinen sprachlichen Anpassungen in die offizielle Vernehmlassung gehen und per 1. Januar 2014 in Kraft treten.

Vier Jahre später, wenn das erste Qualifikationsverfahren durchgeführt wird, sehen wir uns mit der gleichen Situation wie heute konfrontiert. Das grosse Wehklagen der Expertinnen und Experten über das stetig sinkende Niveau der praktischen Arbeiten wird landauf, landab zu vernehmen sein. Die Berufsschullehrer werden den fehlenden Praxisbezug in den Leistungszielen beklagen. Die frisch ausgebildeten Polygrafen, denen man suggeriert hat, sie können gestalterisch kreativ arbeiten, werden frustriert feststellen, dass man ihnen einen Bären aufgebunden hat. Die Verantwortlichen der Berufsverbände werden behaupten, dass der Polygraf nie als Gestalter gedacht war, da sei der Bildungsplan von gewissen Berufsschulen und Lehrbetrieben überinterpretiert worden …

Schade um diesen vielseitigen und interessanten Beruf. Schade um das Potenzial und die Entwicklungsmöglichkeiten, die darin stecken. Es ist aber noch nicht zu spät, um eine Kursänderung einzuleiten. Alle Verantwortlichen der Produktionsbetriebe sind aufgefordert, ihre Haltung zu äussern und klare Forderungen an die zuständigen Gremien zu stellen.

Der Autor

Fritz Maurer war Berufsschullehrer für Bildbear­beitung und Rektor der Berufsschule für Gestaltung Zürich. Heute arbeitet er selbstständig als Bildbear­beiter, als Fachbuchautor und Kursleiter mit Schwergewicht im Bildbereich und im Colormanagement.