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Zwischen allen St�hlen

Das populäre Open-Source-Vektorprojekt Inkscape hat Version 0.92 veröffentlicht. Obwohl es viele interessante Neuerungen enthält, beweist das neue Paket, dass, wer es allen recht machen möchte, es niemandem recht macht. Christoph Schäfer

Es steht ausser Frage, dass Inkscape eines der besten momentan erhältlichen Vektorgrafikprogramme ist – sofern man bereit ist, sich auf ein Bedienkonzept einzulassen, das sich eher an CorelDraw oder Xara Designer Pro als an Adobe Illustrator orientiert. Inkscape erweist sich als extrem leistungsfähig und bietet erstaunliche Funktionen, die man in der kommerziellen Konkurrenz vergeblich suchen wird, nicht zuletzt, weil sie patentiert sind und nur in Open-Source-Projekten ohne Lizenzgebühren eingesetzt werden dürfen.

Indes kämpfte das Projekt nicht zuletzt wegen seines Erbes, in dem das UI-Toolkit GTK+ nach wie vor eine grosse Rolle spielt, mit der Portierbarkeit auf verschiedene Plattformen. Konkret bedeutete dies, dass unerwartete Probleme unter Windows und Mac OS X je nach Upgrade-Status nicht auszuschliessen waren. Erfreu­licherweise beseitigt die neue Version etliche dieser ärgerlichen Bugs, eine Tatsache, die, für sich genommen, ein Upgrade auf 0.92 rechtfertigte. Ebenso zu begrüssen wäre die Anpassung an die CSS3-Konventionen, wenn die Entwickler diese nicht so sorglos durchgeführt hätten.

Installationskrampf

Wer Inkscape 0.92 installieren möchte, ist derzeit unter Windows am besten bedient, denn das Projekt stellt In­staller für 32- und 64-Bit-Windows zur Verfügung. Linux-Anwender, die mit einer auf langfristige Stabilität angelegten Distribution wie openSUSE oder Fedora arbeiten, werden einige Zeit warten müssen, bis Inkscape 0.92 in den Software-Repositorien auftaucht, nicht zuletzt weil neue Abhängigkeiten hinzugekommen sind und ein neues Build-System eingeführt wurde. Ein App-Image ist nicht in Sicht.

Nicht viel besser sieht es momentan für Mac-OS-Anwender aus: Um Inkscape 0.92 zu installieren, muss man den Umweg über Macports gehen.Eine DMG-Version gibt es bisher nicht.

Ansonsten bleibt Inkscape-Interessenten unter Linux und OS X derzeit nur das Kompilieren von Hand, was angesichts der unzähligen Abhängigkeiten schnell zu einem Albtraum werden kann.

Bessere Übersicht

Inkscape 0.92 bietet erfreulicherweise eine längst überfällige Funktion, nämlich die Darstellung des Dokuments in einem Objektbaum. Mit dessen Hilfe lassen sich einzelne Elemente in komplexen Zeichnungen nicht nur umständlich mit der Maus samt Tastaturkombinationen auswählen, sondern einfach in der Baumansicht ansteuern. Die Funktionalität geht jedoch weit darüber hinaus, denn der neue Dialog (Objekt > Objekte) ermöglicht auch das Verschieben von Objekten in der Hierarchie oder auf verschiedene Ebenen, das Anwenden von Transparenzmodi, wie man sie aus Photoshop oder Illustrator kennt, das Suchen und Ersetzen nach verschiedenen Kriterien sowie manches andere mehr.

Dieses neue Feature allein wäre eigentlich ein Grund zum Feiern, aber wie so vieles andere in Inkscape 0.92 hat die Sache zumindest in der vom Autor getesteten Windows-Version einen Haken: Das Fenster mit der Baumansicht ist winzig und lässt sich auch nicht vergrössern, womit die Brauchbarkeit dieses an sich gut durchdachten Dialoges gleich wieder eingeschränkt wird.

Eine andere äusserst nützliche Neuerung ist die Option, einen transparenten Hintergrund als Schachbrettmuster anzeigen zu lassen, wie man es aus Bildbearbeitungsprogrammen kennt.

Pfadwerkzeuge und Typografie

Ausgefuchste und innovative Werkzeuge zur Pfadbearbeitung gehören seit jeher zu den Stärken von Inkscape, und die neue Version enttäuscht in dieser Beziehung nicht. Die neuen Funktionen (bit.ly/inkscape-pfadeffekte) sind so zahlreich und leistungsfähig, dass deren Dokumentation ein umfangreiches Buch rechtfertigen würde. Das ist ganz grosses Kino, und es ist klar, worauf das Hauptaugenmerk der Entwickler für 0.92 lag.

Bei den Textwerkzeugen liegen Licht und Schatten eng beieinander. Ein echter Höhepunkt ist die Unterstützung von erweiterten OpenType-Features, die im «Text und Schrift»-Dialog unter dem neuen Reiter «Merkmale» angeboten werden.

Weiterhin richtet sich Inkscape nun verstärkt nach den CSS-Kriterien für den Textsatz, was an sich zu begrüssen wäre, doch haben die Entwickler vergessen, für mit früheren Versionen erstellte SVG-Dateien eine automatische Anpassung vorzusehen. Stattdessen erscheint ein kryptischer Dialog, der sachlich zwar korrekt ist, den meisten Anwendern aber als unverständlich erscheinen muss. Ausserdem funktioniert keine der Anpassungsoptionen verlässlich, wenn es um Textelemente oder integrierte Pixelgrafiken geht.

Ein echtes Ärgernis ist die Unmöglichkeit, in Textelementen schnell den Zeilenabstand zu verändern. In der getesteten Windows-Version blieb das entsprechende Bedienelement stets ausgegraut, und die Inkscape-Website lieferte keine brauchbaren Informationen zur Reaktivierung dieses Features, sondern eher Esoterisches. Anscheinend muss man in 0.92 den Zeilenabstand im SVG-Quelltext ändern!

Barrierefreiheit

In Sachen Barrierefreiheit hat das Inkscape-Team Massstäbe gesetzt. Version 0.92 bietet eine Simulation von verschiedenen Arten von Farbenblindheit, was unter anderem für die Beschilderung wichtig ist. Ausserdem werden in Kurven umgewandelte Texte zusätzlich als Plain Text gespeichert, um den Textanteil einer SVG-Grafik wieder rekonstruieren oder von einer entsprechenden Software vorlesen lassen zu können.

Füllungen

Eine lange erwartete Neuerung in Inkscape 0.92 ist zweifellos die Einführung von Gitterverläufen, wie sie schon länger in Illustrator verfügbar sind. Indes ist die Bedienung extrem umständlich und in der aktuellen Form geradezu benutzerfeindlich.

Noch schwerer wiegt allerdings die Tatsache, dass Verlaufsgitter bisher nicht Teil des SVG-Standards sind, weshalb Dateien, die die neue Funktion enthalten, in anderen Programmen nicht verlässlich interpretiert werden können.

Ausgabewirrwarr

Inkscape 0.92 führt attraktive SVG-Elemente in der Hoffnung ein, dass sie dereinst in den SVG-Standard übernommen werden, tut dies aber ohne jede Garantie. Es werden ausserdem CSS3-Elemente eingeführt, von denen die Entwickler genau wissen, dass sie derzeit von keinem Browser unterstützt werden. Weiterhin unterstützt das neue Inkscape CSS3-Elemente auf der SVG-Quellcode-Ebene, ohne dass diesen entsprechende Bearbeitungsoptionen in der Benutzeroberfläche gegenüberstünden.

Das wäre alles noch erträglich, wenn es echte Fortschritte beim PDF-Export gegeben hätte, doch davon ist Inkscape nach wie vor weit entfernt. CMYK- und Schmuckfarben sind wie bisher Fremdwörter für das Programm, von CIELAB ganz zu schweigen, und die Entwickler ignorieren noch immer die Anforderungen des Druckgewerbes, etwa den PDF/X-Export.

Angesichts dessen ist es nur ein kleiner Trost, dass 0.92 erhebliche Verbesserungen bei der Ausgabe im HPGL-Plotterformat bietet.

Unausgegoren

Es bleibt schleierhaft, was sich die Inkscape-Entwickler mit dieser Veröffentlichung gedacht haben, die kaum jemandem, der professionell mit Vektorgrafiken arbeitet, wirklich nutzt.

Wer glücklich genug ist, in den Genuss der vielen neuen Inkscape-Funktionen zu kommen, könnte erhebliche Probleme haben, mit früheren von Inkscape erzeugten SVG-Dateien zu arbeiten oder neue in irgendeiner weithin brauchbaren Form oder einem etablierten Workflow verwendbare erzeugen zu können.

Die Tatsache, dass das Inkscape-Projekt empfiehlt, komplexe Grafiken, die die neuen Features enthalten, in Bitmaps umzuwandeln, spricht hier Bände, und dass als einziges Bitmap-Exportformat PNG zur Verfügung steht, ist ebenfalls kein Ruhmesblatt.

Angesichts dieser enttäuschenden Veröffentlichung steht zu hoffen, dass das Inkscape-Team sich in der nächsten Version anstatt auf neuen Feature-Zauber endlich auf die verlässliche Ausgabe für verschiedene Medien, inklusive PDF/X, besinnt.

Inkscape-Anwendern kann man von einem Upgrade auf Version 0.92 derzeit nur abraten und ihnen empfehlen, Version 0.92.1 oder sogar 0.92.2 abzuwarten, die noch im ersten Quartal 2017 erscheinen und die gröbsten Schnitzer beseitigen sollen. ↑

www.inkscape.org