Neue Perspektiven
Wiederum ist es Adobe gelungen, Illustrator in einer neuen Version sinnvoll zu erweitern. Die herausragendsten Neuerungen sind das Anlegen von Objekten an einem Perspektivenraster, die Konturprofile und ein neues vektorbasierendes Malerlebnis.
Andreas Burkard Eine erste angenehme Überraschung sticht bereits beim Aufstarten des neuen Illustrator CS5 hervor. In noch nie da gewesener Geschwindigkeit ist das Programm offen. Willkommen in Illustrator CS5! Schon bald zeigt sich, dass sich auch diese Version nahtlos in die Reihe der beachtlichen Updates seit Illustrator CS einreiht.
Adobe Illustrator wird wesentlich stärker von Fachleuten verwendet, als dies heutzutage bei InDesign der Fall ist. InDesign hat sich in der Medienproduktion zu einem beliebten Massenprodukt entwickelt. Viele Mitarbeiter in Unternehmen pflegen heute selbstständig Inhalte in vorgefertigte Vorlagen ein. Illustrator hingegen ist anders. Das Zeichnungsprogramm fordert die Kreativität des Anwenders in einem noch höheren Masse, als dies InDesign tut, heraus. Konzipieren, reinzeichnen, illustrie-ren, entwerfen: Das sind die Kernthemen, die das Programm abdeckt. Und genau an diesen Themen orientiert sich Illustrator CS5 mit beeindruckenden Neuerungen und zahlreichen Verbesserungen. Doch alles der Reihe nach.
Der Nullpunkt dient dem Ausrichten von Objekten. Über den Nullpunkt werden aber auch Muster in der Position geändert. Ein unachtsames Ändern des Nullpunktes hatte schon die Einstampfung ganzer gedruckter Auflagen zur Folge. Der Nullpunkt mit Start unten links gehört seit Illustrator 1 aus dem Jahr 1988 zum Programm – wie Fidel zu Kuba. Der Start des Nullpunkts unten links stammt aus der Seitenbeschreibungssprache PostScript. Standhaft hat sich Illustrator mit jedem Update geweigert, den Nullpunkt oben links zu halten, so wie dies in anderen Programmen der Standard ist. Beinahe revolutionär anmutend ist jetzt in Illustrator CS5, dass der Nullpunkt nun doch nach oben links gewandert ist. Mehr noch: Muster sind nun unabhängig vom Nullpunktversatz und bleiben somit in der Darstellung geschützt. Schade, dass der Bezugspunkt, nach welchem der Nullpunktversatz die Objekte ausrichtet, nicht im Steuerungsbedienfeld auf der linken Seite wie in InDesign, sondern nur im zusätzlich aufklappbaren Transformationsbedienfeld einzustellen ist.
Ein Klick auf das neue Perspektive-Werkzeug zeigt das Standardperspektivenraster in der Mitte des Dokumentes. Im Menü Bearbeiten können massstabsgetreue Vorgaben für Ein-, Zwei- und Drei-Punkt-Perspektivenraster angelegt werden. Im Menü Ansicht kann eine passende Perspektivenrastervorgabe auf die Zeichenfläche eingefügt werden.
Über verschiedene Symbole lassen sich der Fluchtpunkt, der Horizont und das Gitter ausrichten. Fluchtpunkt und Horizont können weit über die Zeichenfläche hinausgezogen werden. Damit kann eine Perspektive exakt an eine Vorlage angepasst werden. Die exakte Ausrichtung benötigt jedoch einiges an Übung, da die vielen Symbole im Perspektivenraster zuerst ein wenig verwirrend sind.
Eine geschickt eingefügte Orientierungshilfe als Assistent zeigt die aktive Seite in der perspektivischen Zeichnung an. Formen und Texte, welche nun erstellt werden, können mit dem Perspektivenauswahl-Werkzeug auf die aktive Seite in der richtigen perspektivischen Ansicht positioniert werden.
Das Perspektivenauswahl-Werkzeug benötigen Sie ausserdem, wenn Sie Objekte innerhalb der Perspektive verschieben möchten. Das Perspektiven-Werkzeug hingegen benötigen Sie nur, wenn Sie am Perspektivengitter Änderungen vornehmen möchten. Das Perspektivenraster ist nur sichtbar, wenn mit einem der beiden Werkzeuge gearbeitet wird.
Der Assistent als Orientierungshilfe verfügt über drei Seiten, welche frei wählbar sind. Besonders hilfreich ist hier die Verwendung von Kurzformen. Die Tasten 1, 2 und 3 ändern die Seiten, die Taste 4 erlaubt es, Objekte ohne Perspektive zu erstellen.
Das Konturenbedienfeld wurde massiv aufgewertet. So werden nun beispielsweise gestrichelte Konturen optional an den Objektecken richtig angepasst, indem die Lücken leicht erweitert werden. Pfeilspitzen sind nun bequem im Konturenbedienfeld einstellbar.
Doch die ganz grosse Neuerung in diesem Bereich ist das neue Werkzeug Width Tool. Das neue Width-Werkzeug kann den Durchmesser einer Kontur an einer beliebigen Stelle verändern. Der Vorgang ist ganz einfach. Das ausgewählte Werkzeug zeigt beim Touchieren eines Pfades einen kleinen Kreis. Wird nun mit gehaltener Maustaste an dieser Stelle nach aussen oder nach innen gezogen, verbreitert oder verschmälert sich die Kontur an der Stelle. Wird mit zusätzlich gedrückter Alt-Taste gezogen, wird nur eine Richtung verändert. Ein Doppelklick ermöglicht die nummerische Eingabe beider Ausdehnungsseiten.
Der Fantasie sind hier keine Grenzen gesetzt. Die neue Funktion lässt sich an beliebigen Stellen eines Pfades einzeln oder mehrfach verwenden. Nebst gewöhnlichen Konturen können Sie damit auch Pfade mit Mustern, dem Pinsel und Verläufen ändern.
Wird ein Pfad mit dem Width-Werkzeug in der Breite verändert, ergibt die Änderung ein Profil. Dieses ist im Aussehensbedienfeld festgehalten und kann als Grafikstil oder als Pinsel gespeichert werden.
Bis anhin war digitales Malen den Pixelprogrammen Painter und ab Version CS4 auch Photoshop vorenthalten. Kann man überhaupt naturgetreues Malen in einem Vektorprogramm simulieren? Den Beweis, dass es geht, liefert nun Illustrator CS5 mit dem Borstenpinsel. Eine verbesserte Stifttechnologie der heute handelsüblichen Grafiktablets hilft bei der Simulation von Maltechniken. Ein positiver Aspekt beim vektorbasierten Malen ist das Abändern der Pfade. Die Pixel sind im Käfig der Auflösung gehalten und jeder einzelne Pixel besitzt eine Farbzuweisung. Ein Pfad hat ein auflösungsunabhängiges Aussehen. Ankerpunkte können problemlos geändert werden.
Die neue Maltechnik beruht im Wesentlichen auf dem neuen Borstenpinsel. Die vielen Einstellungen dieses Werkzeuges kommen der herkömmlichen Maltechnik mit verschiedenen Pinselarten mit unterschiedlichen Pinseleigenschaften sehr nahe. Geschickt schichtet der Borstenpinsel zahlreiche transparente Flächen entlang der Pfadform übereinander.
Führen sehr komplexe Umsetzungen solcher Zeichnungen zu Ausgabeproblemen, ist die Umwandlung in ein Pixelbild die richtige Lösung.
Illustrator CS5 hat im unteren Bereich der Werkzeugpalette eine neue Auftragsdefinition. Über drei Symbole lässt sich bestimmen, wo ein Objekt erstellt werden soll. Standardmässig werden Objekte übereinandergeschichtet erstellt. Mit der zweiten Option wer-den Objekte automatisch hinter bestehenden Objekten erstellt. Die dritte Option bildet wohl den spannendsten Einfügemodus. Beim Klick auf diese Option wird das aktive Objekt mit gestrichelten Ecken dargestellt. Neu erstellte Objekte werden nun automatisch in diese Form eingefügt. Bei der Verwendung von Pinseln wird nun nur innerhalb dieser Form gemalt. Zwischenablageobjekte können innerhalb ausgewählter Formen eingefügt werden (das riecht ganz nach dem im Stich gelassenen Klassiker der Zeichnungsprogramme, dem guten alten FreeHand). Über den vertrauten Befehl Schnittmasken zurückwandeln werden die eingefügten Objekte der Form entnommen.
Ein Gitterobjekt ist ein mehrfarbiges Objekt, welches mit Gitterlinien unterteilt wird. Gitterlinien und Gitterflächen können farblich weiche Abstufungen enthalten. Die Methode, mit Gitterobjekten zu arbeiten, ist zwar aufwändig, in der Regel sind Zeichnungen dieser Art jedoch beeindruckend und wirklichkeitsgetreu.
Mit Illustrator CS5 können Gitterobjekte oder einzelne Gitterflächen Transparenz enthalten. Auch diese Neuerung wird seine Anhänger finden. So lassen sich beispielsweise durchsichtige Glasoberflächen einfacher erstellen.
Illustrator CS5 ist mit einem Pixelraster ausgestattet, welcher bei starker Vergrösserung in Erscheinung tritt. Damit kann wesentlich besser pixelgenau gearbeitet werden. Durch eine neue Option werden Objekte am Pixelraster ausgerichtet. In den Vorgängerversionen wurden Objekte durch eine Glättung an den Rändern ein wenig unscharf. Dieser Mangel gehört nun der Vergangenheit an. Konturen liegen exakt am Pixelraster und werden gestochen scharf exportiert.
Wenn sich Objekte hinter einem überragenden Objekt befinden, gab es bisher zwei gängige Methoden, diese zu selektieren. Die eine führte zur Pfadansicht und die andere zu den Unterebenen. In der neuen Version von Illustrator hält nun eine Kurzform Einzug, die vielen Anwendern aus InDesign bekannt sein dürfte. Mit gedrückter Befehl-Taste (Ctrl-Taste unter Windows) können dahinterliegende Objekte ausgewählt werden.
Mit einem neuen Zeichenflächenbedienfeld können neue Zeichenflächen vereinfacht angelegt und verwaltet werden.
Ausgewählte offene Pfade können einheitlich über Befehl+J (Ctrl+J unter Windows) geschlossen werden. Davon profitiert unter anderem ein in Illustrator geöffnetes DXF-Format. Meistens wird eine DXF-Datei in einzelne offene Pfade konvertiert. Das umständliche einzelne Schliessen der nicht verbundenen Ankerpunkte ist somit hinfällig geworden.
Ein neues Shape-Builder-Werkzeug ermöglicht es, sehr einfach überlappende Schnittbereiche als unabhängige Formen zu definieren.
Diverse oft verwendete Stilisierungseffekte wie beispielsweise der Schlagschatten und die weichen Kanten profitieren in Illustrator CS5 von einer deutlichen Beschleunigung.
Illustrator sollte noch bessere Verzerrungsmöglichkeiten besitzen, wie beispielsweise tiefer gehende Linseneffekte. Wünschenswert ist ferner die Unterscheidung von Objekt und Inhalt bei platzierten Bildern analog InDesign. Der Planungsbereich lässt Vermassungsoptionen vermissen. Die 3D-Effekte könnten ausgebaut werden und ein zu Photoshop Extended kompatibles 3D-Format aufweisen. Hilfreich für einen kreativen Arbeitsvorgang wäre eine Protokollpalette, wie Photoshop diese kennt. Und da sind noch die Diagramme …
Nach einer verbesserten Diagrammfunktion besteht akuter Bedarf. Zumal Adobe im gesamten Softwareangebot kein auf anspruchsvolle Designprozesse angepasstes Diagrammtool mit Berechnungsmöglichkeiten und dergleichen im Portfolio hat. So erstaunt es nicht, dass heute viele Anwender nach Alternativen suchen. Sie werden nebst Microsoft Excel in Apple Numbers 9 fündig. Das Apple-Programm besitzt eine Tabellenkalkulation. Via PDF-Export kann ein aus Numbers 9 exportiertes Diagramm heute problemlos in einen Produktionsprozess eingeschleust werden. Dass RGB-Daten aus Illustrator und InDesign separiert werden können (beispielsweise über die PDF/X-1a-Vorgabe), ist mittlerweile bei vielen Anwendern angekommen.
Selbstverständlich kann Illustrator seit Langem Diagramme erzeugen. Über die 3D-Funktion lassen sich die Diagramme sogar optisch aufpeppen. Der gesamte Prozess ist jedoch veraltet und umständlich – und bei Änderungsprozessen gehen Aussehensattribute verloren. Es ist höchste Zeit, dass sich Adobe dieses Themas annimmt. Der doch hohe Bedarf an Diagrammen würde gar die Auslagerung in ein eigenes Programm rechtfertigen. Ein Nachbessern der Illustrator-Diagrammfunktion, und wäre diese noch so klein ausgefallen, hätte den Anwendern das Gefühl vermittelt, dass an der Diagrammfunktion nach wie vor Interesse besteht. Mit Illustrator CS5 bekommt man den Eindruck, dass diese Funktion in Vergessenheit geraten ist.
Illustrator CS5 orientiert sich an den Kernpunkten. Das Programm bietet eine noch nie da gewesene Fülle an ausgereiften kreativen Funktionen. Abgesehen von der Diagrammfunktion überzeugt die neue Version. Wer Illustrator bereits für seine Arbeiten einsetzt, kann sich somit an vielen innovativen und kreativen Neuerungen sowie etlichen sinnvollen Verbesserungen erfreuen. Für Neueinsteiger und Gelegenheitsanwender wird das Programm jedoch zu einer zunehmenden Herausforderung.
AndreasBurkardarbeitet als Grafik-Designer in der Mediengestaltung und -produktion. Er macht seit vielen Jahren individuelle Trainings für die Adobe-Programme Illustrator, InDesign, Photoshop und Acrobat.