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Wie ein Flyer junge Menschen k�dert

Der Werbung von Diäten, Waschmitteln und von Kosmetika glaubt heute kein Mensch. Es wird geflunkert, dass sich die Balken biegen. Werbung um den Berufsnachwuchs hat eine andere Dimension – sie muss zwingend objektiv und der Wahrheit verpflichtet sein.

RALF TURTSCHI Junge 15-jährige Berufsuchende sind in einer ausgesprochenen Stresssituation. Sie müssen zum ersten Mal die Weichen für ihre berufliche Zukunft selbst stellen. Mitten in der Adoleszenz stehend, weiss manch ein Junge oder manches Mädchen kaum, welche Vorlieben in welchen Berufen ausgelebt werden können. Eltern, Lehrer oder auch Berufsberater sind redlich bemüht, aber auch sie wissen kaum über die reale Berufswelt umfassend Bescheid.

Websites, Berufserkundungen, Schnupperlehren, Berufsbilder und Broschüren sollen ermöglichen, sich ein Bild zu machen. Doch wo beginnen?

Für jede Lehrstelle Polygraf gibt es je nach Betrieb und Region Dutzende von Bewerberinnen und Bewerbern – ein riesiger Überhang. Das Berufsbild Polygraf ist bei der Jugend unbestritten attraktiv: Etwas Gestaltung und etwas Computer, das trifft den Nerv der Zeit. Die Nachfrage nach dem Beruf anzukurbeln, ist Sache der Berufsverbände. Wer den aktuellen Flyer «Polygraf/Polygrafin» des Arbeitgeberverbandes Viscom einmal genauer betrachtet und liest, der kommt nicht darum herum, die hier versprochene Berufswelt mit der Realität zu vergleichen. Der oben abgebildete Flyer liegt auf der Website www.viscom.ch unter Berufsbilder –> Factsheet Polygraf/Polygrafin als PDF zum Download.

Da es sich um «offizielle» Dokumente handelt, ist der Anspruch an den Wahrheits- und Realitätsgehalt besonders hoch. Attraktive Weichspülversprechen und unrealistische Aussagen vermögen zwar zu locken, spätestens in der Schnupperlehre oder in der Ausbildung wird das gezeichnete Bild dann von der Wirklichkeit eingeholt und führt dann möglicherweise zu Frust und Abwendung. Der Viscom selbst rief im Januar 2009 zu einer Berufsbildnertagung und thematisierte die Lehrabbrüche. Stefan Gelzer, Direktor der Schule für Gestaltung, Bern und Biel, zeigte auf, dass im Kanton Bern 20% aller Lehrverhältnisse insgesamt abgebrochen werden, im Kanton Zürich gar 25%. Beiden Polygrafen im Kanton Bern wurden im Schuljar 07/08 nur gerade 4 Lehrverhältnisse von 156 aufgelöst, 2,5%. Die steigende Tendenz von Lehrvertragsauflösungen (grafische Branche insgesamt: 11%) nahm der Viscom zumAnlass, über das richtige Auswahlverfahren nachzudenken, er ortete Handlungsbedarf bei den Berufsbildnern. Die These wurde vertreten, wenn Lernende nach richtigen Kriterien aus­gewählt würden, dann würden diese in der Lehre Fuss fassen und die Ausbildung nicht abbrechen. Das magso zutreffen – an der Tagung blendete der Viscom vollständig aus, dass auch die Werbung um den Nachwuchs schuld sein kann, wenn das Wunsch­berufsbild in sich zusammenfällt undes anscheinend keinen anderen Aus­weg gibt, als die Lehre abzubrechen. Laut einem anderen Referenten, Jürg Jegge, Stiftung Märtplatz, Rorbas, arbeiten zwei Drittel aller Erwerbstätigenin der Schweiz nicht mehr in ihrem erlernten Beruf. Es gibt also offenbar mehr Leute, die den Beruf auch nach der Lehre «abbrechen». Vielleicht sollte man sich einmal überlegen, ob die Realität mit dem in der Werbung versprochenen Berufsbild übereinstimmt. Auf der Filmsequenz «Medienvorstufe» auf der Viscom-Website –> Berufsbilder «Print&Digital» (mit typografisch falscher Zeichensetzung!) werden lauter attraktive Printprodukte dokumentiert: Buch, Kunstbuch, Plakat, Zeitschrift, Werbebroschüre, Luxusverpackung. Ein Faksimilebild eines historischen Buches wird durch eine Lernende gescannt und im Fotostudio wird eine ganze Serie von Katalogbildern digital fotografiert. Man hört auch, dass Polygrafen in zwei Fachrichtungen arbeiten – was nicht stimmt, sie werden in zwei Fachrichtungen ausgebildet, dabei ist die Unterscheidung minimal. Auf jeden Fall sieht man hier als Laie ein ziemlich verzerrtes und geschöntes Bild eines Polygrafen, das mit der durchschnittlichen Realität nicht viel gemein hat.

Werfen wir doch einmal einen Blick in das oben abgebildete «Factsheet Polygraf/Polygrafin». Ich zitiere die rot markierten Stellen unterstrichen und kommentiere.

«Du hast gestalterisches Flair, bist sprachlich gewandt und arbeitest gerne am Computer.» In der Praxis dürfte die Reihenfolge eher umgekehrt sein, weil die technische Datenverarbeitung im Vordergrund steht und nicht gestalterisches Flair. Welche Bilder entstehen bei einem Jungen, der diese Sätze liest?

«Zurzeit gestalte ich den Werbeprospekt für eine Snowboardschule. Dieselben Daten werden auch fürs Internet verwendet. Meine Idee habe ich beim ersten Kundengespräch eingebracht, wo ich dabei sein durfte. Mich freut und motiviert es, dass meine Idee aufgenommen wurde. Später ging es darum, ein Gesamtkonzept für ein Print- und Screenprodukt zu erarbeiten.» Hier wird Kundenkontakt suggeriert, sogar eine Idee, die gut aufgenommen wurde. In der Tat haben die allerwenigsten Lernenden Kundenkontakt. Nach Einschätzung von Fritz Maurer, Rektor Berufsschule für Gestaltung Zürich, könnten nur etwa 5% aller Polygrafen in der Lehre im Sinn der Joberledigung überhaupt gestalten, geschweige denn ein Gesamtkonzept erstellen. Dieser Ausdruck ist doch sehr hoch gegriffen, ich kann mir nicht so recht vorstellen, dass ein 15-Jähriger versteht, was unter Gesamtkonzept eines Print- und Screenproduktes verstanden wird.

«Nicht zu vergessen sind die Ab-klärungen über die Autorenrechte und das Copyright.» Hier wird ein Thema aufgegriffen, das in der Praxis nicht stattfindet, schon weil ein Lernender juristisch gesehen nicht handlungsbevollmächtigt ist und auch nicht versteht, was Autorenrechte bedeuten. Ein normaler Lernender wird also keine Abklärungen in diese Richtung vornehmen. Hat etwa schon jemand seinen Kunden gefragt, ob dieser über die Rechte der übermittelten Texte und Bilder verfügt?

«Schulische Fähigkeiten: bestandener Eignungstest Viscom.» Der Viscom bedingt sich unter schulischen Fähigkeiten im Flyer den bestandenen Eignungstest aus. An drei verschiedenen Stellen wird auf diesen Test hingewiesen. Gute Schulnoten in Deutsch, Mathe, Zeichnen oder andern Fächern werden im Flyer nicht erwähnt. Der Eignungstest ist ein Test, zu dem die Kandidaten vom Viscom regional an bestimmte Orte aufgeboten werden und der am PC oder Mac absolviert wird. Im Test wird Schulwissen des 8. Schuljahres abgefragt:

  • Deutsch Leseverständnis
  • Deutsch Grammatik
  • Mathematik schriftliches Rechnen
  • Mathematik Kopfrechnen
  • Mathematik Geometrie
  • Allgemeinwissen Realien
  • Allgemeinwissen Merkfähigkeit
  • Allgemeinwissen logisches Denken
  • Farben und Formen
  • Französisch Grammatik
  • Man muss sich fragen, ob der Viscom tatsächlich mit einem automatisierten 3-stündigen Test eine Berufseignung besser herausschälen will, als dies die Schule mit Zeugnissen kann. Die einzelnen Fächer werden mit einer Pro­zentzahl des maximal zu erreichenden Wertes benotet und können im Widerspruch zu den Schulzeugnissen stehen. Die Ergebnisse kommen dann mit dem Dossier zum Berufsbildner, wo sie interpretiert werden. Es ist in der Praxis so, dass ein Bewerbungsdossier mit ungenügenden Schulnoten automatisch zu einer Absage führt, es braucht einen zusätzlichen Test nicht. Man würde lieber im Flyer auf die vorhandenen Schulzeugnisse mit Minimalanforderungen verweisen. Junge, Eltern, Berufsberater und Lehrer könnten auch so abschätzen, ob eine Eignung vorliegt und Chancen bestünden.

    «Wir empfehlen dir, den Eignungstest vor der Schnupperlehre zu absolvieren. Die meisten Lehrbetriebe setzen das Bestehen dieses Tests voraus. Unter www.viscom.ch kannst du dich online in deiner Wohnregion anmelden.» Dies ist eine offene Aufforderung, den Eignungstest zu absolvieren, der den Kandidaten aufzeigen soll, ob eine Eignung als Polygraf vorliegt oder ob sie sich gar nicht um die Polygrafenlehrstelle bemühen sollten. Peter Theilkäs referierte an der Berufsbildnertagung wie folgt: «Ein Scheitern beim Eignungstest ist kein Grund, den Schüler oder die Schülerin fallen zu lassen.» Im Prospekt wird genau das Gegenteil davon weisgemacht, nämlich dass der bestandene Test eine Vorbedingung ist, ein krasser Widerspruch. Der in einer verklausulierten Nötigung verlangte Eignungstest kostet eine Gebühr von 100 Franken. Bei rund 250 Lehrverhältnissen pro Jahr mit (spekulierten) 20 Bewerbern pro Lehrstelle spült er rund 500 000 Franken in die Kasse des Viscom. Aus der «Not» der Jugend wird im grossen Stil mit einem ziemlich überflüssigen Test abgezockt, das empfinde ich als Skandal. Die Unternehmen, die Berufsberater und die Behörden schauen zu, wie gemolken wird. Wer würde freiwillig auf eine sechsstellige Summe in der Verbandskasse verzichten?

    Kann ein Betrieb etwa in der gleichen Art Schnupperlehren kostenpflichtig ausschreiben, sagen wir pro Schnupperlehre 500 Franken, als Schulungsdienstleistung deklariert? Das wäre politisch undenkbar – unglaublich, dass so einem Eignungstest kein Widerstand erwuchs.

    «Folgende Internetseiten geben einen Überblick über offene Lehrstellen:www.berufsberatung.ch, www.viscom.ch. Schaue auch im Lehrstellennachweis (Lena) deines Kantons nach.» Am Stichtag, dem 8. Mai 2009, waren im Lena 8 Polygrafenlehrstellen für 2009 in der Schweiz gemeldet, 4 davon in der Deutschschweiz. Auf der Viscom-Website ist für 2009 1 Lehrstelle als offen gemeldet, Für 2010 sind es 14, für 2011 1. Es ist ganz offensichtlich, dass die Betriebe die offenen Lehrstellen nicht oder nur zögerlich veröffentlichen. Zu gross ist die Arbeit, die durch Dutzende von Bewerbungsdossiers entsteht. Dazu kommen noch Blindbewerbungen, auf die ein Berufsbildner auch nicht gewartet hat. Ein Internetverzeichnis aller Ausbildungsbetriebe wäre hilfreicher, aber das existiert nicht. Apropos Adressangaben: Es ist peinlich, wenn nicht mehr existierende Viscom-Adressen wie die inzwischen aufgelöste Geschäftsstelle für die Ost- und Zentralschweiz im Flyer aufgeführt sind.

    «Aber noch wichtiger ist die Umsetzung der Website-Struktur. Dazu sind gute Kenntnisse der Web-Editoren nötig. Da trifft es sich gut, dass wir im letzten überbetrieblichen Kurs mit Web-Editoren gearbeitet haben.» Hier wird suggeriert, dass eine Website programmiert wird, und zwar mit guten Kenntnissen. Das entspricht nicht der täglichen Betriebspraxis, weil die wenigsten Betriebe überhaupt Web­sites herstellen und diese wenigen die Websites dann sicher nicht von Lernenden programmieren lassen. Hier gaukelt man dem Leser vor, die Programmierung von Websites gehöre zum Berufsalltag und zur Polygrafenausbildung.

    «Im Durchschnitt bist du an 3,5 Tagen pro Woche im Lehrbetrieb.» Für Schulmüde kein Wort vom ersten Grundschuljahr, welches vollkommen in der Berufsfachschule absolviert wird, und kein Wort von der BMS. Laut Bundesamt für Statistik haben im Jahr 2007 85 Polygrafen die Berufsmatur erreicht, 41 Burschen, 44 Mädchen. Nach Einschätzung des Direktors der Gestalterischen Berufsmaturitätsschule Zürich, J.-D. Zwahlen, absolvieren ein gutes Drittel aller Polygrafen die BMS. Einsolcher BMS-Polygraf ist im ersten Bildungsjahr fast nie, ab dem zweiten Jahrnur 3 Tage pro Woche im Betrieb.

     

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