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Schwarmintelligenz

Der Mensch ist der Heuschrecke ähnlicher, als man gemein-hin annehmen würde, denn im Schwarm ist die Unauf­fälligkeit Trumpf. Ein tierischer Aufsatz über Schwärme, Rudel, Rotten, Horden und menschliche Gruppierungen.

Ralf Turtschi Mme Teissier und Mme Etoile wahrsägten sich wie alle Jahre durch das schwarze Januarloch. Als Mai-Zwilling (Aszendent Zwilling, Sonne im zwölften Haus) werden mir von Mitte Januar bis ­Mitte März profitable Geschäfte vorausgesagt, in der Beziehung wird es Fortschritte geben (das ist, wenn jemand fort schreitet) und in der zweiten Jahreshälfte wird zur generellen Voraussicht aufgerufen. Jemand könnte versuchen, in der ersten Septemberwoche mein Leben nachhaltig zu beeinflussen. Ich plane just dann einen Trekking-Urlaub in ­Peru, ich hoffe, die weitsichtigen Sternguckerinnen meinen nicht die Piloten. Nüchtern betrachtet glaube ich an den ­Placeboeffekt, im Flug werden wir vielleicht homöopathisch durchgeschüttelt, aber schliesslich vom Nahtoderlebnis ins Leben reinkarnieren. Astrologie oder Homöopathie sind lukrative Deutungsmethoden, die viele Leute mehr oder weni­ger ernsthaft in Anspruch nehmen. Was ­viele tun, kann nicht falsch sein. Unmöglich. Mainstream ist das Erfolgsmodell, überall, in allen Bereichen.

In der Tierwelt entwickeln Fischschwärme eine wirksame Verteidigungsstrategie gegen Fressfeinde, der Schwarm entwickelt «Intelligenz», die dem einzelnen Viech abgeht. Im Ameisenstaat werden die Kürzest­routen zur Futterquelle mit Duft markiert. Jene Individuen, die auf dem kürzesten Weg zum Bau zurückkehren, markieren zuerst, die nächsten folgen dann zunehmend diesem «Trampelpfad», der sich schliesslich zu dem Weg entwickelt. In stark frequentierten Fuss­gängerzonen setzt sich irgendeinmal wie von selbst eine gemeinsame Flussrichtung durch, ohne dass jemand leitend eingegriffen hätte. Schwarm­intelligenz funktioniert nach einfachen Regeln: Folge dem Individuum vor dir im gleichen Tempo, vermeide seitliche Zusammenstösse und sieh zu, dass dich keiner links überholt. Alle möglichen Vögel bewegen sich nach diesen einfachen Prinzipien.

Schwarmintelligenz gibt es auch im Fernsehen. Von Ratesendungen her wurde die «Publikumsfrage» bekannt. Dort wird eine Frage, die vom Kandidaten nicht beantwortet werden kann, ans Publikum weitergereicht, welches darüber abstimmt. In den meisten Fällen liegt die Mehrheit richtig. Wenn Sie an einer Party die Anzahl Gummibärchen in einem Glas schätzen lassen und Sie den Durchschnitt aller Schätzwerte als Zahl für sich beanspruchen, werden Sie wahrscheinlich immer gewinnen. Ganz egal, ob Sie nun Fisch oder Schafsbock sind, das ist simple Mathematik. Schwärme, Rudel, Facebook, Interessensverbände und Parteien sind insgesamt also besser als die einzelnen Indi­viduen. Der Mainstream hat immer Recht. Konsultieren Sie Hitlisten der meistverkauften Schriften, und kaufen Sie die Nummer 1, die Helvetica. Das gute Ranking wird zum Selbstläufer. Wir sind der Souverän, und jede Meinungsumfrage, jedes Schwarmverhalten führt automatisch zur Mehrheitsbeflügelung. Aber ist die Mehrheit deswegen auch gut? Oder gerade deswegen eben nicht?

Um Schwarmintelligenz nutzen zu können, müssen durch permanenten Wahlkampf überhaupt einmal Schwärme gebildet und zusammengehalten werden. Zu einem Schwarm gehören Gleichgesinnte, Gleich­denkende, Gleichagierende und Gleichleidende. Eine sich selbst überschätzende Engstirnigkeit in der Deutungshoheit ist zudem notwendig. Alles Andersdenkende, Nichtlinien­treue wird vom Tisch gefegt, um den not­wendigen Konformitätsdruck aufrechtzuerhalten. Abweichende Ansichten werden durch An­drohung von Sanktionen (Schwarmausschluss) im Keim erstickt. Ist doch sehr aufschlussreich, wenn eine Partei ihre Gefolgschaft in entwaffnender Ehrlichkeit als weisse Schafe plakatiert. Folge dem Schaf vor dir im gleichen Tempo und meide Zusammenstösse mit dem schwarzen Schaf neben dir, dann wirst du am wenigsten auffallen und überhaupt keine Verantwortung tragen. Der Gruppenzugehörigkeitsdruck äus­sert sich in finsteren Deutungen, die bei jeder Gelegenheit nachgeblafft werden. Ohne Pro und Kontra wird die heile Gruppendenke im Heidi­weltbild zementiert. Das Problem sitzt halt an einer schwer zugäng­lichen Stelle, zwischen den Ohren. Kein Wunder, kommt die ideologische Schwarmbildung von Führern, die zu Haus­e vier, fünf Chueli und ein Dutzend Schafe versorgen. Abstruse Behauptungen, mit viel Geld medial verstärkt, vernebeln das individuelle Denkvermögen. Blöken ist halt einfacher als argumentieren. Egal, wohin die Gruppendenke führt, wichtig ist, dass die Herde beisammenbleibt. Das erschwert dem europäischen Wolf das Eindringen ins einheimische Wildern. Entweder wird abgeschossen oder ausgeschlossen. Dabei möchten wir Urbanen lieber freie Städte-WiFi-Zonen, ein Breitband-Glasfasernetz, iPads in der Schule, uncodiertes HD-Fernsehen – Kopftücher, Kruzifixe, Minarette, Obligatorisches, Waffenlagerung und Frontalunterricht sind doch rückständige Hinterbänkler­themen für Minderheiten.

Eine andere Art Schwarmintelligenz sitzt in den Medien. Der «Blick»-Newsroom ­gestattet der Redaktion, die Klicks auf die Themen der jeweiligen Websites einzusehen. In ständig aktualisierten Kurvengrafiken zeigt eine riesige Videowand, wie ein Thema «einschlägt» und den Mob hochschaukelt. Leser mutieren zu permanenten Bloggern und TED-Rückmeldern, sodass die Storys je nach Zugriffen weitergeköchelt werden, bis das Interesse des Mobjournalismus wieder erlahmt. In Ungarn wird die Medien-unfreiheit gerade beklagt, während hier der kritisch denkende Journalismus den Bach runter geht.

Dem Chef-Schwarmkämpfer kanns egal sein, denn er hatte auf seinem Schreibtisch noch nie einen Computer, sondern einen ­Anker stehen.

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