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Bewusste Inkompetenz

Noch vor einer Generation legte man die eigene Zukunft mit der Grundbildung fest. Wie auf Schienen fuhr man geradewegs der Pensionierung entgegen, ohne dass sich viel veränderte. Heute sitzen wir in der Achterbahn mit ungewissem Ausgang.

Ralf Turtschi Nuklearkatastrophe in Japan, Bürgerkrieg in Nordafrika, Börsenabstürze – die Negativmeldungen in den Nachrichten sind bedrohlich und Angst einflös­send. Politiker und Experten aller Couleur übertreffen sich mit Beschwichtigungen auf einer nach oben offenen Ernsthaftigkeits­skala. Die brutale Wahrheit muss für die Bewohner ganz anders aussehen. So viele Leersätze wie in den Tagen der Katastrophe habe ich selten gelesen und gehört. Angeblich stehen in Europa die sichersten AKW in Deutschland, meinte Merkel, man schaltet dort aber die unsichersten der sichersten vorsorglich für drei Monate ab. Sarkozy nimmt dieselbe Sicherheit für Frankreich in Anspruch. In der Schweiz habe man die weltweit höchsten Sicherheitsstandards, tönts von der Axpo. Ich wage die Prognose, dass, nachdem der geistige Tsunami die europäische Politik geflutet hat und die wahlpolitischen Schäden analysiert sind, aufgeräumt und zum gesunden Opportunismus der unfassbaren Wahrscheinlichkeit übergeleitet wird. Denn der Schreck hat eine kurze Halbwertszeit. Das loyale politik- und expertengläubige japanische Volk erlebt nun den unwahrscheinlichsten Fall, nämlich wie ein Erdbeben (!) und ein Tsunami (!) die Sicherheitsversprechen nachhaltig zerstören. Unglaublich, da Japan ja bekannt für beides ist.

So verursachen kriegerische Auseinandersetzungen, menschengemachte Katastrophen (die grössten Schweizer Talente) und Naturkatastrophen oder technische Havarien wie Exxon Valdez, Brent Spar, Deepwater Horizon, Tschernobyl oder eben jetzt Fukushima immer ein Unsicherheitsgefühl, ein Klima der Angst. Allerdings mit einem voyeuristischen Anflug des Entsetzens, weil das alles immer sooo weit weg ist und bald von der nächsten Schreckensnachricht überdröhnt wird. Sowenig Ölkatastrophen zu einem Verzicht aufs Autofahren führen, so wenig wird Fukushima zum Stromsparen führen. Nach wie vor werden die Aliens vom All her nachts ganze Städte und Dörfer hell erleuchtet sehen, dank unserer 24-Stunden-Konsumgesellschaft.

Permanente Angst und Verunsicherung haben sich längst in unsere Hirnwindungen eingefressen – sie sind zum Normalzustand geworden. Die aufgesetzte Betroffenheit und Spendenfreudigkeit entschuldigen die Verschwendungsgesellschaft nicht, sie sind wie Fasnachtslarven, die nach kurzer Zeit wieder abgelegt werden.

Die Angst tief in uns drin, die bleibt, die Unsicherheit über die berufliche Zukunft. Im Publisher wurde schon die tröstliche These vertreten, es werde in Zukunft weniger, dafür Höherwertiges gedruckt. Ich bin da nicht so sicher, wenn ich meine Sammlung an Pizzakurier­flyern durchsehe.

Ist der Polygraf am Ende? Der VSD, Verband der Schweizer Druckindustrie, reklamiert, dass Polygraf ein produzierender und kein gestaltender Beruf sei. Die Berufsschule für Gestaltung Zürich stellte an einer Vortragsveranstaltung am 12. April die bange Frage: «Computer und Gestalten? War ­alles ‹für die Katze›?!». In der Branchenzeitschrift Viscom wurde kürzlich lamentiert, man ­könne sich nicht recht vorstellen, wie die Druckindustrie mit dem iPad erfolgreich Geld verdienen könne. Der gleichnamige Verband setzt die crossmediale Medienkompetenz im Berufsbild Polygraf fest. In der offiziellen beruflichen Grundbildung schwimmen die Lehrberufe Polygraf, Grafiker, Mediamatiker, Werbetechniker und Multimediadesigner im gleichen Teich, mit zum Teil gleichen Lehrinhalten, die eine Halbwertszeit von vier Jahren besitzen. So lange dauert es, eine Berufslehre zu entwickeln und einzuführen. Kein Mensch hat den Durchblick, dazu kommt jetzt noch die Wolke. Die Automatisation macht Angst, die meisten Betriebe der grafischen Branche sind KMU, die weder die finanzielle Kraft noch die Marketingpower besitzen, um standardisierte und hoch automatisierte Prozesse bei ihren Kunden durchzusetzen. Übers Internet wandern Aufträge ab oder die Kunden erledigen sie, ­inklusive Druck, selbst. InDesign zu bedienen, ist nicht komplizierter als Excel oder Word. Viele der Datenpro­bleme wie Übergriff, Farbdeckung, Falschfarben, Auflösung, fehlende Schriften, schwarze Schriften, die mit CMYK definiert sind, können über Plug&Play korrigiert werden. Ist es nicht ein völliger Unfug, die Programme so auszustatten, dass ein fehlerhaftes PDF überhaupt geschrieben werden kann? Warum meldet einerseits meine Brennsoftware, dass 10 GB nicht auf einer DVD Platz haben, streikt aber andererseits InDesign nicht, wenn ein für den Druck vorgesehenes PDF geschrieben wird, die Vor­aus­setzungen dazu aber fehlen? Eine Vollverweigerung ­wäre angebracht. Ist es nicht wie bei der ­Migrationspolitik? Dort werden die Flüchtlinge bekämpft, statt die Fluchtursachen zu beheben. Man sollte also nicht ein Heer von Datenschrottverarbeitern zur Abwehr von Druckproblemen heranbilden, sondern die Despoten rund um Adobe zur Behebung der Ursache in der Software bewegen.

Zukunftsangst lässt sich leichter herbei- als wegschreiben, auch ich leide stark darunter. Wenngleich ich davon überzeugt bin, dass Kommunikation eine blendende Zukunft hat. Es wird immer Leute brauchen, die wissen, wie man Text, Bild, Film und Ton aufbereitet, mischt und darstellt, damit wenigstens die Halbwahrheit gesagt ist. Das beginnt bei der Formulierung von allgemeinen Versicherungsbedingungen oder von Lizenzvereinbarungen, die kein Mensch je liest, geschweige denn versteht, und hört bei der geschönten Darstellung auf dem Screen oder auf dem Papier auf. Im Gegensatz zu den Technikgläubigen unter uns meine ich, dass niemals alles automatisiert werden kann. Der Kreativprozess ist so ziemlich das Gegenteil davon. Eine Headline entsteht nicht auf Knopfdruck, auch eine Bild­idee nicht, kein Logo oder keine vernünftige Gestaltung. Ein Bild besteht aus 90% Kreation, 8% Interpretation und 2% Profilierung. Ein guter Text besteht aus 90% Deutsch, 9,99% Typografie und 0,01% Mikro­typografie. Wo die Automatisierung sinnvoll ist, hat sie ihren Platz – wenn die Technokraten aber die Beherrschung der ganzen Prozesskette inklusive Kreation für sich beanspruchen, dann geht es um einen ziemlich arroganten Übergriff. Auch wir selbst ernannten Fachexperten sind durch das Zusammenwachsen der Medien immer mehr zu Dilettantismus verdammt. Aus der Migros-Klubschule habe ich den Begriff der unbewussten Inkompetenz aufgegriffen. Berufliche Reifung heisst der Entwicklungsschritt von der unbewussten zur bewussten Inkompetenz. Bescheidenheit – mehr liegt für Experten einfach nicht drin.

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