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Neue Schrift: Prokyon


Schrift

Kaisers neue Kleider

Kann es in heutiger Zeit noch neue Ansätze für Schriftentwürfe geben, oder ist Schrift generell schon erfunden? Die DTL Prokyon von Erhard Kaiser, hier gleich angewendet.

RALF TURTSCHI Sehende fragen sich, wie oft das Alphabet, bestehend aus 26 Gross- und Kleinbuchstaben, Sonderzeichen, Interpunktione und Akzenten, neu gezeichnet werden kann. Es gibt Tausende von Schriften und täglich werden es mehr. Der «Geschmack der Öffentlichkeit» verändert sich jedoch mit den Lesegewohnheiten nur langsam. Adrian Frutiger hat mit seinen Schriften (Frutiger, Univers, Centennial, Méridien, Serifa, Avenir, Egyptienne F, Vectora u. a.) unbestrittene Standards gesetzt, was Leserlichkeit und Erkennbarkeit betrifft. Zudem muss man wissen, dass Schrift in Deutsch ganz anders aussieht als in Englisch, weil andere Zeichen häufiger vorkommen, die Worte im Englischen generell kürzer sind und die Versalbuchstaben nur am Satzanfang vorkommen. Eine Schriftfamilie zu zeichnen, ist ein komplexer Prozess, weil mit zunehmender Fette die Buchstabenformen zusammenwachsen und kleine Schriften eher dicker sein müssen als Plakatschriften. Die Gesetze des Sehens verhalten sich nicht linear, eine kleine Schrift lässt sich nicht einfach vergrössern, eine Leseschrift eignet sich nicht unbedingt als Displayschrift. Kompromisse sind angesagt.

Neu als Ziel?

Trotz der Schwierigkeit, Neues zu erschaffen, gelingt es immer wieder, Buchstabenformen so vom Bekannten zu variieren, dass ein neuartiges Schriftbild entsteht. Die Futura war 1927 ein Gegenentwurf zur Akzidenz-Grotesk, die Syntax entwickelte eine humanistische Formensprache bei den Grotesk-Schriften, Meta und Officina zeigen schlankere Formen mit angebogenen Endstrichen, die Optima ist in ihrer Formsprache Aussenseiter. Es ist klar, dass alle Schriftgestalter auf der Suche nach noch nie Dagewesenem mit den Formen ringen. Im Bereich Fun ist es relativ einfach, eine Schrift zu zeichnen. Wenn die Schrift im Standardsortiment der Werkschriften – wie mit der Prokyon angestrebt – einen Platz erobern will, sind die Ansprüche ungleich höher: Ein Ausbau in verschiedene Fette, Kursive, Kapitälchen, Sonderzeichen und Akzentbuchstaben ist verlangt. Eine Riesenarbeit. Kaiser meint dazu: «Der Sortimentsumfang einer Werkschrift ist die eine Hälfte, das wesentliche Problem aber ist der sehr kleine Gestaltungsspielraum, den die Kriterien leichter Lesbarkeit und die traditionellen Sehgewohnheiten dem Designer übrig lassen. Diesen kleinen Spielraum anzuerkennen, ihn auszumessen, zu erweitern und mit Anspruch etwas wirklich Gutes, Neues, Sinnvolles zu schaffen, das den Tag über Moden hinweg überdauert, ist die eigentliche Schwierigkeit.» Über die Designqualität von Schriften zu debattieren, ist Kult, wir erinnern uns an die Rotis von Otl Aicher, von den einen verehrt, den andern verteufelt. Je mehr Eigenwilligkeit einfliesst, desto grösser ist der individuelle Schriftcharakter, desto mehr weicht das Design vom Gewohnten ab, was automatisch zu mehr Polarisierung führt. Ob die Prokyon das Zeug dazu hat?

Die Prokyon

Prokyon ist der Hauptstern des Sternbildes Kleiner Hund, der Name war für Erhard Kaiser einfach vom Klang her ohne weitere Bedeutung interessant. Offiziell heisst die Schrift nach einer verbreiteten Unsitte der Vertreiber DTL Prokyon. Man legt jedoch eine Schrift nicht alphabetisch nach den Vertreibern wie LT, FF, ITC oder DTL ab, sondern nach dem Namen. Und wenn alle Fontnamen im Schriftmenü beispielsweise bei D wie DTL Prokyon statt bei P auftauchen, irrt man nur noch umher. Das kommt von den Fontherstellern, ist lästig, unlogisch und überheblich. Die diesem Artikel zur Verfügung gestellten OpenType Fonts zeigen die Prokyon Regular in der Anwendung als Werkschrift. Die Grösse ist 8 pt, Zeilenabstand 11 pt.

Um mich der Prokyon gestalterisch zu nähern, ziehe ich gern andere Schriften herbei, die einen Vergleich ermöglichen. Ihre Charakteristik besteht aus einer Formreduktion, die aus dem Weglassen von Anstrichen besteht. Besonders ins Auge fallen m und n und u. Dies beobachten wir auch bei der Handel Becker, Sari, Schmalhans oder Dax. Ein anderes Designmerkmal sind die konkave und die konvexe Strichführung, die bei den Schrägen in w, v, x usw. eingesetzt werden. Dadurch erhält die Schrift eine Lebendigkeit, tendiert weg von der Nüchternheit, die sie selbst durch Formreduktion anstrebt. Zwei Seelen wohnen auch in ihrer Brust … Diese Merkmale treten bei Leseschriften zurück, machen sich erst in Grössen ab etwa 14 Punkt bemerkbar. Wie bei einigen Schriftklassikern (Caslon, Baskerville, Fleischmann) sind die Prokyon-Versalien im Verhältnis zu den Gemeinen eher breit und markant. Eine auffällige Form erhält das kleine g. Der über den Abstrich auslaufende Bogen erinnert an das Federhäubchen eines Haubentauchers. Daran ist die Prokyon leicht zu erkennen, weil das g in seiner Art originell ist. Übrigens ähnlich, wie dies bereits Eric Gill im p seiner Gill Italic realisierte. Der Abstrich des g ist leicht geschwungen, die Breite etwas schmaler als bei anderen Groteskschriften. Weitere Merkmale rufen Erinnerungen an die Gill wach: Das kleine kursive f erhält eine Unterlänge. Alle Endstriche sind senkrecht geschnitten. Die Proportionen lehnen sich an denklassischen Kanon von Antiquaschriften an, bei denen die Mittellänge eher klein gehalten ist. Kaiser bewegt sich hier gegen den Mainstream, die Mittellängen bei den Serifenlosen offen und gross zu gestalten. Die Leserlichkeit nimmt dabei keinen Schaden, die Prokyon ist auch klein gut zu lesen. Mit zunehmender Fette sind die Mittellängen etwas grösser gestaltet. Die Fetten wachsen von Light bis Bold gleichmässig um den Faktor 1,3.

Bei den Breiten hält sich Kaiser an das gewohnte Bild, bis auf das bereits erwähnte g und das a, welches im Vergleich mit der Frutiger einiges schmaler ausfällt. Der Kontrast der Prokyon, d. h. der Unterschied zwischen vertikalen und horizontalen Strichen, ist relativ klein. Diese Möglichkeit, Lebendigkeit zu erzeugen, hat Kaiser ausser Acht gelassen, er setzt andere Mittel dafür ein. Die Kursive läuft schmaler als die Regular und neigt sich 12 Grad. Es sind echte Kursive und nicht einfach bequem schräg gestellte Oblique-Schnitte, wie Eric Spiekermann dasbeispielsweise bei der Unit vorgezogen hat. Gut zu sehen am kleinen a, welches bei den Kursiven ganz anders gezeichnet ist: a.

Die Ziffern bestehen aus Standardziffern in Versalhöhe und einheitlicher Breite, die in Tabellen gesetzt werden. Weiter gibts Mediäval- und Kaptälchenziffern für den Lauftext mit individueller Breite sowie in Einheitsbreite.

Und zuletzt positiv erwähnenswert: Doppelpunkt, Fragezeichen, Ausrufezeichen und Klammer erhalten endlich mal einen kleinen Abstand. Danke. Die DTL Prokyon bringt eine gewisse Exklusivität, Kaiser schlägt mit dieser schön gezeichneten Mengensatzschrift gekonnt die Brücke zwischen Klassik und Lifestyle.

 

Kasten: Kommentar

Erhard Kaiser hat mit der DTL Prokyon eine neuartige und charakterfeste Grotesk geschaffen, die man sofort erkennt. Die nüchterne Kühle, die den Serifenlosen oft anhaftet, ist überhaupt nicht vorhanden. Die Prokyon wirkt lebendig, anmutig, sie schafft den Spagat zwischen maskulin und feminin. Das insgesamt stimmige Bild wird durch ein paar Details getrübt, die ich hier zur Diskussion stelle. Mir persönlich liegt das schmale a weniger. Es wird der Bedeutung in der Lautsprache und der Häufi gkeit nicht gerecht. Mit dem «Federschmuck» des kleinen g habe ich mich nach längerer Betrachtung abgefunden. Etwas kürzer, damit in grösseren Graden weniger auffällig? Genau gleich wie beim r, welches durch den grossen Überhang im Satzbild viel Platz beansprucht. Er führt dazu, dass der Abstand zu dem nachfolgenden Buchstaben zu gross ist. Es entstehen übergrosse Zwischenräume, welche das Satzbild etwas beeinträchtigen. Festzustellen auch bei Wörtern, die mit r enden. Der Querstrich bei G liegt zu tief, vor allem bei der Light, der Regular und der Medium, bei der Bold stört es weniger. Beim Q habe ich Mühe mit dem Strichlein, welches einer heraustreibenden Wurzel gleicht, irgendwie steckt mir da zu viel rotative Bewegung drin. Bei den Ziffern mag ich mich mit den gerundeten Formen der 4 und der 7 nicht richtig anfreunden. In kleinen Graden ist es kaum wahrnehmbar. Bei den Mediävalziffern ist die 8 zu wuchtig, die 2 zu plattfüssig. Beim m stellt sich die Frage, weshalb die Innenräume des ersten und des zweiten Bogens nicht gleich breit sind. Der zweite Bogen wirkt irgendwie nicht harmonisch, sondern wie aufgesetzt. Vier Abstufungen von Light bis Bold sind gut zu unterscheiden, das reicht für den Einsatz als Werksatzschrift. Unverständlich: Man muss nicht Turtschi heissen, um darauf zu stossen, dass alle T zum nachfolgenden Buchstaben viel zu viel Abstand aufweisen. Einfach eine Nachlässigkeit im Kerning oder typografi sche Steinzeit? Die Trema (in der Bold und der Medium) drängen sich ins Auge. Im Gegensatz dazu wirken die Akzente magersüchtig, unsere welschen Freunde sind darüber bestimmt nicht so glücklich. Das Komma ist etwas gar lang geraten, es ist mir zu dominant.