Heft-Archiv >> 2005 >> Publisher 6-05 >> Das Letzte >> Vergiss es � weg damit!
Artikel als PDF

Vergiss es � weg damit!

Abschied für immer

Vergiss es – weg damit!

In schnelllebigen Zeiten entstehen allerlei Altwaren. Eine Kolumne über Abnabelungsprozesse.

RALF TURTSCHI Ich weiss haargenau, dass Sie sich in folgender Situation spiegelbildlich erkennen: Sie stehen morgens etwas verschrumpelt vor Ihrem Ankleideschrank und können sich nicht auf Anhieb entschliessen, die eine oder andere Hose anzuziehen. Und welches Hemd passt: gestreift oder kariert? Das geht so weiter bis hin zu Krawatten, Kitteln und Schuhen. Bei den Damen soll sich das Problem potenzieren, die Ärmsten haben ja zudem noch diverse Einfärbeprobleme. Unter Zeitdruck schnappen Sie sich endlich ein paar Sachen und wappnen sich für den Büroalltag. Und seien Sie ehrlich, Sie haben schon wieder das Gleiche, wie so oft in den letzten Monaten, angezogen – Ihre Lieblingsstücke. Dabei stecken Dutzende weitere Hemden, Hosen, T-Shirts, Pullis und Krawatten ungebraucht im Schaft.

Bei der nächstmöglichen Kleidersammlung steht dann die Entscheidung an: Was behalten und was fortgeben? Nur nicht nach Afrika, dann sehen Sie das Zeug spätestens nächstes Jahr wieder hier umherlümmeln. Schwierig, die Sachen sind ja alle noch so gut wie neu – aber leider nicht mehr ganz nach dem letzten Schrei. Kann man doch nicht entsorgen, ist fast schade. Es könnte sein, dass man wieder mal froh drum ist. Also motten die «alten» Klamotten, wo sie sind. Sie können sich schwer davon trennen, stimmts?

Lassen Sie uns in Ihren Keller stöbern. Da liegt die alte Zeltausrüstung. Sie waren doch über zehn Jahre nicht mehr zelten! In der Garage hängt grau verstaubt noch immer das alte Surfboard. Sie surfen schon Jahre nicht mehr! Fein verpackt in Kartonboxen lagern etwa 80 Kilo Simmels, Konsaliks, Wallanders, Silvabücher, grossformatige Fotobände, Bildbroschüren aus früheren Ferien, Harry Potters etcetera, etcetera. Schon dreimal haben Sie diese geistvollen Boxen gezügelt, sich dreimal fast einen Bruch zugezogen. Aber die Kisten gehören nun mal zu Ihrem Hausunrat. Ja, und da steht noch dieser schröcklich geblümte Gummikasten mit alten Wintermänteln und gemusterten Skianzügen, Sie erinnern mich an den Winter 95 in Ischgl, wo noch die Post abging. Die Erinnerungen hängen wie die Skianzüge. Kann man doch nicht einfach so fortgeben. Im Prinzip gibts nur ein Prinzip: Wenn der Neue reinkommt, muss der Alte raus. Aber wer handelt schon ver­nünftig mit liebgewordenen Schätzen? Evolutionsbiologische Sammler und keinen Schritt weiter! Ha!

Ich verstehe Sie vollkommen, auch ich hab die gleiche Krankheit. Bei mir verkommt ein echter Holzsetzkasten, mit dem ich meine Lehrabschlussprüfung abgelegt habe. Einst geputzt, abgelaugt und schön gebeizt, steht er seit Jahrzehnten in einer Kellerecke, hat etwas Staub angesetzt und wartet vorwurfsvoll, bis er in neuem Glanz das Licht der Oberwelt noch einmal erblickt. Vielleicht als Zierde über dem Kamin? Vielleicht in der Küche oder im Arbeitszimmer? Da wir nun einmal modern eingerichtet sind, passen weder der Setzkasten noch die antike Biedermeierkommode der verstorbenen Grossmutter zur übrigen Einrichtung. Wir schlafen schliesslich auch nicht im über mehrere Generationen vererbten Kastenbett auf Strohmatratzen, nicht wahr?

Aber was machen mit dem Plunder? Und dort steht noch mein Gautschbrief, handgeschrieben, ich habe ihn voller Stolz schon an fünf Arbeitsorten vorgezeugt. Wer weiss heute noch, dass ein Gautschbrief früher der Gesellenbrief der Schriftsetzer war? Ich schaffe es einfach nicht, mich davon zu trennen. Er nützt mir nichts mehr, passt nirgendwohin, allfällige Erben haben keinen Bezug dazu und deshalb kein Interesse, und nach dem Schliessen meines Sargdeckels wird er wohl ebenso dem Brenner zum Opfer fallen. Also was soll die Gefühlsduselei mit meinem Gautschbrief. Entsorg ihn. Vergiss es.

Wenn ichs mir so recht überlege, gehts im Büro gleich weiter. Da steht bei uns noch so ein Laufwerk für Optical Discs 256 MB, bereit, angenetzt zu werden, falls ein Eremit uns eine MO mit Daten übergeben sollte. Die Syquest mit 44er-Disks habe ich unter Aufbringung allen Mutes nach einer umfassenden Risikoanalyse erst vorletztes Jahr entsorgt, im dataktiven Sondermüll, nachdem niemand Bedarf hatte, ein solches Laufwerk geschenkt zu erhalten. Wir sind jetzt Syquest-frei (engl. sorgenfrei, die Red.).

Erst kürzlich hat Apple als erster Hersteller Computer ohne Diskettenlaufwerke hergestellt. Welch ein medialer Aufschrei ging um die Welt. Die Vogelgrippe ist ein Zipperlein dagegen. Und wann haben Sie zum letzten Mal eine Diskette in den Händen gehalten? Ich jedenfalls erinnere mich schon nicht mehr so genau daran. Und wissen Sie was? CDs und DVDs ist das gleiche Schicksal vorbestimmt. Man kann sie gleich vergessen.

Im Archiv lagern nicht nur Hunderte von solchen Silberscheiben, die in zehn Jahren kaum mehr ein Laufwerk lesen kann. Nein, dazu lagern noch Berge von Belegen selbst gestalteter Drucksachen. Von früher, aus der Anfangszeit des Desktop Publishing. Grausig, was wir damals alles hergestellt haben. Lachhaft, die Bildqualität, dilettantisch die Benutzung von nur gerade elf Schriften. Erinnerungen über schlechte Zeiten, gute Zeiten. Der Mantel der Demenz hat sich noch nicht darübergelegt, Zeitzeugen wie aus einer anderen Welt. Wie lange soll man das alles noch horten? In den Müll, wen kümmerts? Aber halt! Richten wir ein Museum ein, damit sich die Leute in 200 Jahren das ansehen können, nicht erst dann, wenn alles schon fortgeworfen oder nicht mehr lesbar ist. Oder sind wir schon ein Museum? Nein. V er g i s s - e s . Weg damit.

Seit neustem male ich mit Acrylfarben auf Leinwand. Sieben Bilder sind bereits entstanden, sie hängen im Wohnzimmer, über dem Kamin, im Arbeitszimmer, im Korridor, im Schlafzimmer etcetera, etcetera, Sie wissen ja. Mehr davon erträgt weder unsere Wohnung noch die Einrichtung – soll ich jetzt mit Malen aufhören, obwohl ich ganz angetan bin? Weggeben oder verbrennen wie Luginbühl? Abnabeln, loslassen, verschenken, verkaufen, sich trennen – empfänglich sein für Neues. In diesem Sinn gilt auch für meine Kolumne: Vergiss es – weg damit!

 

 

Artikel als PDF