Stillstand
Ich bin weiss Gott nicht jemand, der an der eigenen Vergangenheit hängt. Mit Sprüchen wie «Früher war alles besser» kann ich wenig anfangen. Kürzlich habe ich in einem alten Fotoalbum geschmökert, mit eingeklebten Fotos und so. Die Farben ausgeblichen, alle Bilder nach heutigen Kriterien ziemlich unscharf, miese Bildausschnitte, ein analoges Fotoarchiv – wie konnte ich damals so etwas machen! Nein, in der Vergangenheit war nicht alles besser. Der «Publisher» vor 25 Jahren wäre in der damaligen Typografie heute undenkbar. In den wilden 90er-Jahren, als die Welt im Desktop-Publishing- und Digitaldruck-Hype vibrierte, erschütterten uns technologische Neuerungen im Halbjahresrhythmus. Über die ersten 128er-Modems, die in späten Nachtstunden die ersten Internetseiten zuckelnd auf den Bildschirm schrieben, können wir nur milde lächeln. Aufbruchstimmung war im gesamten Haus!
Was ist heute davon geblieben? Die Normalität hat uns eingeholt. Die digitalen Tsunamis von damals sind einem harmlosen Plätschern gewichen. Digitaldruck oder auch Digitalfotografie sind nicht mehr Outsider, nein sie haben sich zum normalen Standard entwickelt. Und Standards erleiden alle das gleiche Schicksal: Sie kämpfen sich zum Standard hoch, danach schalten sie in den Monopolmodus und: schlafen ein. Ein paar Beispiele? Da gabs vor zwanzig Jahren diese JPG-Hoffnung JPG 2000. Verlustfrei in höchster Kompressionsrate Bilder speichern. Noch heute ist das Format in Adobe Photoshop als Worthülse integriert, ohne jegliche Bedeutung. Trennprogramme: InDesign ist nach 25-jährigem Bestehen nicht in der Lage, die Buchstabenkombination ss fehlerfrei zu trennen. Grös-se ist nicht gleich Grö-sse. Die Rechtschreibeprüfung im grossmundig angekündigten Zeitalter der künstlichen Intelligenz ist auf dem Niveau eines Primarschülers stehengeblieben. Der Digitaldruck kann einen grösseren Farbraum als der Prozessstandard Offset (PSO) abdecken. Man könnte ohne Weiteres mit mehr als den vier Standardfarben CMYK drucken. Der PSO würgt die Entwicklung hin zu einer brillanteren Druckqualität richtiggehend ab. Die verantwortlichen Gremien verteidigen den Status quo mehr, als sie ihn entwickeln. Die problemlose Farbraumtransformation im Hintergrund ist nicht im Ansatz zu sehen. Farbmanagement und Farbprofile bleiben eine Spielwiese von ein paar Freaks, vergleichbar mit Mikrotypografie und Gestaltung. Ein Bot übersetzt «Wie heisst du?» italienisch mit «ciao heisst du?» Wars das jetzt oder kommt noch was? Wir bekommen stattdessen Päcklidrohnen und Streichelroboter.
Die digitale Bewegung treibt träge dahin. Einer der Desktoppioniere, Adobe, gleicht einem führerlosen Tanker. Man suhlt sich in den Einnahmen, kauft damit die Konkurrenz laufend auf, und dampft sie ein. Die Cloud-Abo-Bezahl-Kundenfesselungsmodelle munden nicht allen, derweil Unrentables wie Adobe Muse eingestellt wird. Die Digitalisierung in der Publishingbranche ist ein Anschauungsbeispiel, wie der Lebenszyklus einer Revolution verläuft. Ist die Konkurrenz einmal ausgeschaltet und fliessen die Milliarden, übernimmt die Börse. Wir Anwender haben das Nachsehen – im Desktopzwinger müssen wir mit dem vorlieb nehmen, was uns Adobe zubilligt. Wer über den Tellerrand schaut, erkennt bei Google, Facebook und Co. die gleichen Züge.