Editorial
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Publishing zwischen Spiel- und Werkzeug
Wer mit Kleinkindern den Haushalt – und somit den PC – teilt, kennt das Problem: Kaum dass man hinter dem Computer sitzt, hat man schon den Kleinen auf den Knien, der sofort die Herrschaft über die Tastatur entschieden für sich beansprucht. Eine zweite PC-Tastatur auf dem Tisch zu platzieren bringt da wenig; das Ablenkungsmanöver wird rasch durchschaut und das nicht angeschlossene Keyboard grosszügig dem Erwachsenen überlassen. So erging es auch mir, bis mir kürzlich beim Entrümpeln eine Berthold-Tastatur wieder in die Hände fiel, die ich vor einiger Zeit vor dem Schredder gerettet hatte. Seither habe ich Ruhe am PC. Immerhin hat das Ding fast doppelt so viele Tasten wie ein gewöhnliches PC-Keyboard, und mit dem sicheren Instinkt eines Dreikäsehochs hat unser Kleiner sofort die richtige Klassierung zwischen Spielzeug und Profiwerkzeug vorgenommen.
Und wenn ich jetzt so hinter meiner PC-Tastatur sitze und für ein Guillemet umständlich bei gedrückter Alt-Taste die Ziffernfolge 1-7-4 eingebe, während der Kleine im Spiel auf dem Berthold-Keyboard das vielleicht gerade mit einem einzigen Tastendruck erledigt hat – ja, dann frage ich mich schon, ob da mit der technischen Entwicklung alles richtig gelaufen ist. Die Berthold-Tastatur erinnert mich nun täglich daran, dass diese Satzanlagen schon vor über 10 Jahren auf einem Niveau angelangt waren, an das wir uns zum Beispiel im Bereich der Tabellen mit den aktuellen DTP-Werkzeugen jetzt erst wieder langsam annähern.
Ganz offensichtlich folgt die technische Entwicklung ähnlichen Gesetzen wie die naturgeschichtliche Evolution. Interessanterweise ist es dabei gerade das Prinzip der Entwicklung in kleinen Schritten, das immer wieder zu groben Brüchen führt. Dann nämlich, wenn die Kluft zwischen dem gegebenen Entwicklungsstand und den geänderten Anforderungen der Umwelt zu gross wird, als dass sie sich mit kleinen Entwicklungsschritten überbrücken liesse. Dies bedeutet dann das Ende eines evolutionären Wachstums und die Entwicklung läuft in eine Sackgasse, in der unter Umständen auch wertvolle Errungenschaften verloren gehen.
Trotzdem leisten jeweils auch diese absterbenden Äste ihren wertvollen Beitrag zur Weiterentwicklung des Ganzen. Wenn auch auf dem Weg in die evolutionäre Sackgasse, so hat Berthold in den 80er-Jahren doch Massstäbe gesetzt, an denen sich das aufstrebende Desktop Publishing zu orientieren hatte. Die etablierten Hersteller von Satzanlagen waren quasi die Sparringspartner, die die DTP-Anbieter im harten Wettbewerb für die Zukunft fit gemacht haben. Ohne die Herausforderung, es denen von Berthold zu zeigen, wären Apple, Quark und Adobe wohl nicht das, was sie heute sind. Und wenn wir dann in ein bis zwei Jahren bei den Tabellenfunktionen das Berthold-Niveau wieder erreicht haben, ist für die DTP-Anbieter vielleicht auch die Zeit gekommen, sich einer satzgerechten Tastatur zu widmen ...
Martin Spaar