Mittelachse
Die heilige Mitte im Fegefeuer
Was schon lange brodelt, muss jetzt endlich mal hinaus. Es geht um die Mittelachse. Sie ist überall präsent und nivelliert die Gestaltung auf einen harmonischen Konsens, an dem nichts auszusetzen ist. Die Mitte ist schön, die Mitte ist heilig.
RALF TURTSCHI Gestalter sind an zwei Dingen erkennbar. Erstens fällt die schwarze Ankleide auf und zweitens sind sie irgendwie schräge Vögel. Vielfach treten gleich beide Merkmale auf, fast immer wenigstens eines davon. Weiss angezogen sind nur die unfehlbaren Gurus, die leuchtenden Vorbilder. Von Nouvel, Botta & Co. bis zu Uriella ist es ein weiter Weg, der mindestens mit 256 verschiedenen Grautönen gepflastert ist. Gut, «schräge Vögel» ist wenig präzise, man könnte auch schreiben «kreativ». Gestalter haben Narrenfreiheit, sie dürfen im schwarzen Rollkragenpulli zur Sitzung erscheinen, wo anständige Leute mit Schlips hingehen. Im Gegenteil – ein Rolli zeugt von einer kreativen Lebensauffassung, wie es Banker nur vom casual friday her kennen. Ich muss sagen, ich bewundere die Freiheit der Kreativen, die frei jeglicher Konventionen, frei von der Leber weg sich so geben dürfen wie sie sind. Wäre da nicht ein kleines Problem.
Die Herkunft der Mittelachse
Die scheinbare Freiheit ist nicht so gross, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Ist das schwarze Habit nicht eine Konvention, eine Uniformierung, eine Kennzeichnung, eine Abgrenzung gegenüber Aussenstehenden?
Und wäre da nicht noch ein weiteres Problem. Druckerschwärze und schwarze Kleidung haben einen gemeinsam Ursprung. Sie entspringen dem 15. Jahrhundert, als Gutenberg 1450 ein paar Erfindungen machte, welche die Verbreitung von ketzerischem Gedankengut ermöglichten, welche wiederum die Reformation auslöste. Geist und Schrift sind in alle Ewigkeit verbunden. Die schwarz Gewandeten schrieben schon früher Bücher und übersetzten sie in alle Sprachen.
Mit der Schrift stellten sich schon in den Skriptorien die üblichen Darstellungsfragen – Blocksatz, Flattersatz und Mittelachse sind keine Erfindungen Gutenbergs.
Die Suche nach der göttlichen Schönheit liess Werke in Harmonie und mit vollendeten Proportionen entstehen, in Architektur, Kunst und eben auch in der Schrift. Die Säulenhallen der Griechen und Römer wurden mit Sprüchen und Ehrungen versehen, und wer hätte es damals gewagt, die prächtigen Fassaden mit einem linksbündigen Text zu verzieren? Die Gebäude wären ob des Ungleichgewichts eingestürzt! Ausgewogenheit fand ebenfalls Einzug in die handgeschriebenen Bücher, wo es schwierig war, Zeilen zu zentrieren. Versuchen Sie mal, ein paar Handnotizen einzumitten! Mit dem PC ists ein Kinderspiel, und so ist es nicht verwunderlich, dass alle Welt sich der Harmonie verpflichtet fühlt.
Mittelachse tötet Spannung
Alles Spannungsmörder. Titel auf einem Flyer? Mittelachse. Bucheinband? Mittelachse. Einladung zur Party? Mittelachse. Geburtsanzeige? Mittelachse. Plakatwände? Lauter Mittelachse. Internet? Mittelachse auf ewig. Anzeigen in Zeitungen und Zeitschriften? Werber und Grafiker sind auf Mittelachse konditioniert. Das Diplom an der Wand? Mittelachse. Die Speisekarte im Gourmettempel? Auf Mitte gesetzt. Ortstafeln im Verkehr? Mittelachse. Fernsehen? Filmabspann des Psychothrillers ist in Mittelachse gesetzt. Äusserst spannend. Kennen Sie den Kalauer: «Lesen Sie die Packungsbeilage oder fragen Sie einen Arzt oder Apotheker.»? In 90% aller Spots in Mittelachse. Fantastische kreative Leistung.
Mittelachse ist die Kreativität des Fantasielosen. Ich meide Mittelachse, wenn immer ich kann. Mittelachse ist nur dort angebracht, wo ich wirklich Harmonie erzeugen will. Und da ich bis heute weder ein Mandat für das Rote Kreuz, für Unicef oder für die Kirche ausübe, bin ich glücklicherweise in der Lage, aus den sieben verschiedenen Satzarten diejenige auszusuchen, die passt: Blocksatz, Flattersatz links- und rechtsbündig, Mittelachsensatz, Rundsatz, Formsatz und freier Flattersatz. Wenn der Papst oder andere Würdenträger der Kirche die Zuhörer segnen, machen sie dies mit einer Handbewegung, welche das christliche Kreuz symbolisiert. Urheberrechtlich gehört Mittelachse dem Papst. Urbi et orbi, in Rom und auf der ganzen Welt.
Was denn an Mittelachsensatz so schlimm sei, ist eine Überlegung, die der Leser sich nun stellt. Das Fatale an Mittelachse ist die Unfähigkeit jedes Betrachters, daran etwas ändern zu können. Mittelachse ist rein, himmlisch perfekt und schön wie Lara Croft. Unsterblich, schlank, bewundernswert und ohne Makel. Man kann daran nichts rütteln. Man kann die zentrierten Zeilen nicht ein wenig nach links oder rechts rücken, um ein besseres Resultat zu erreichen. Zentriert ist zentriert. Und zwar auf der ganzen Papierbreite. Einen kleinen eingemitteten Satzblock beispielsweise auf dem Briefbogen oben links hinzukleben, sieht ungefähr so dynamisch aus wie ein trockener Tannzapfen, der irgendwo im Baum hängt.
Mittelachse ist zwar harmonisch, auf der andern Seite aber todlangweilig. Häufiges Anwenden von Mittelachse ist sündhaft und endet garantiert im typografischen Fegefeuer.