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Die bequeme Wahrheit

Wer die Fussball-EM in Bern gesehen hat, kann sich vorstellen, wie es in der Schweiz aussieht, wenn der niederl�ndische Meeresspiegel um drei Meter steigt. Alles halb so wild.
RALF TURTSCHI Seit Al Gore mit seinem Umweltkatastrophenfilm «Eine unbequeme Wahrheit» die Welt eroberte, ist das Klima ein Hype. Auf die apokalyptischen Szenarien der Wissenschafter folgen automatisch die Dementis und Verharmlosungen rechtskonservativ-bürgerlicher Kreise. Erwärmungen habe es schon immer gegeben, insbesondere nach dem Urknall. Und schliesslich verdanken wir einer Erwärmung, die der letzten Eiszeit den Garaus machte, unsere Existenz mit all den europäischen Problemen wie der neapolitanischen Güselsackverbrennung.

Da der Jahrhundertsommer 2003 bereits ausgerufen wurde, kann es logischerweise bei uns vorerst nicht mehr wärmer werden. Die Klimaentwicklung ist jedoch ein globales Thema. Wenn in Bangladesch der Ganges über die Ufer tritt und in New Orleans die Dämme brechen, ist das tragisch, aber wo bitte, ist da unser Problem? Wenn die Sonne mehr scheint, wird der Zürichsee ein paar Grad wärmer, eine feine Sache. Es gibt ja ganz spässige Szenarien: Ozonloch, Sonne scheint durch, Polkappen und Gletscher schmelzen, Meeresspiegel steigt, Holländer überrennen Bern. Oder das: Grönlandeis schmilzt, bricht ein, verursacht 40-Meter-Tsunami, Atomkraftwerke in Meeresnähe werden hinweggefegt, keine Holländer in Bern. Und dann noch: Erd­erwärmung führt zu mehr Wolkenbildung, Sonne dringt nicht mehr durch, Erde kühlt ab, Golfstrom gestoppt, nächste Eiszeit steht bevor, Grindelwald wird vom Gletscher zermalmt.

Man kann es drehen und wenden, wie man will, ich kenne kein einziges Szenario, welches nicht ganz schrecklich für die andern ist. Es gibt eben zu viele Menschen auf diesem winzigen Planeten. Der beste Klimaschutz wäre, die (andern) Menschen zahlenmässig auf das Niveau von 1890 herunterzufahren. Man müsste Eltern generell strafbesteuern, keinesfalls finanziell entlasten, denn Kinder stellen klimalogisch die grösste Bedrohung überhaupt dar. Sie kennen es von Erstmüttern: für Kinder ist nur das Beste gut genug: Windeln aus Brasilien, Spielwaren aus China, Playstation aus Taiwan und so weiter.

Wir müssen bei den Menschen sparen. Man stelle sich vor, was los ist, wenn jeder Inder in 10 Jahren einen Tata fährt. Eine Katastrophe, dann bleibt für uns ja kein Tropfen Most mehr übrig. Und wenn die Chinesen durchgehend alphabetisiert sind, dann wollen die plötzlich mit der Zeitung nicht den Hintern wischen, sonden sie wollen dann Zeitung lesen. Dann gibts bei uns eine Chemineeholzverknappung, das sag ich Ihnen, die lesen dann Zeitung, die aus unseren Bannwäldern stammt, weil es dann kein Tropenholz mehr geben wird. Und wenn sie, statt Hühnerbeine auszukochen, plötzlich Appetit auf Schweinereien kriegen, dann kaufen sie den gesamten amerikanischen Genmais als Futter für ihre Kommunistenschweine. Die Amis zehren dann vom eigenen Fett. Wie man sieht, ist die Klimakata­strophe wirklich ein verbales Phänomen.

Und was passiert unterdessen bei uns? Nebst ein bisschen Lamentieren (Es hat doch keinen Sinn, wenn die andern nicht mitmachen.) versuchen wir ganz einfach, Kohle zu machen. Die Stromversorgungslücke wird zur Drohgebärde, damit neue klima­neutrale Atomkraftwerke realisiert werden können, mit deren Strom in niedrigpreisigen Zeiten Wasser in die Stauseen gepumpt wird, der dann als Ökostrom teuer verkauft und exportiert wird, wenn die Preise hoch sind. Ökonomische Bio-Logik.

Ein anderes Beispiel ist der Grossverteiler Coop mit dem Slogan: für mich und dich. Wir lernen: «mich» kommt vor «dich». Der Grossverteiler hat keine Mühe, den Knoblauch aus Argentinien direkt neben der Biokost-Linie auszulegen. Äpfel aus Neuseeland (die mit dem Kleberli) gleich neben der Pro-Mon­tagna-Linie zugunsten der Bergbauern. In der Fischabteilung wird per Plakat angeschlagen, dass man auf bedrohte Fischsorten verzichtet. Alles andere wird verkauft, bis es auch bedroht ist. Max-Havelaar-Bananen liegen neben Sternfrüchten, Mangos und Litchis, die ganz von allein hierhergekommen sind. Kürzlich las ich in der Presse, Coop habe diesen Frühling 40000 Einweggrillschalen verkauft. Nicht lange fragen, einfach das Beste (Geld) daraus machen. Vielleicht kommt einmal jemandem in den Sinn, die Energiebilanzen von Nahrungsmitteln oder von Grillschalen zu deklarieren ...

Auch die grafische Industrie unternimmt enorm viel, um umweltfreundlicher zu produzieren. Es scheint manchmal so, dass all der grafische Plunder überhaupt überflüssig sei. Wer liest denn schon eine Gebrauchsanleitung, ein Handbuch, unangeforderte Werbung? Gibt es sinnvolle und unsinnige Druckerzeugnisse? Ist die Werbung – bin ich – mit schuld an der Klima­erwärmung? Es stellt sich die Frage, was es das Klima kostet, unsinnige Produkte, die niemand will, zu vervielfältigen und zu Tausenden bestenfalls dem Recycling zuzuführen? Es wäre weitaus besser, auf solche Massenprodukte ganz zu verzichten, als sie klimaneutral regelrecht zynisch auf FSC-Papier zu produzieren und die Restschuld per Myclimate zu entsorgen. Wir müssten ganz verzichten, statt mit Oberflächenkosmetik den Ressourcenverschleiss zu legitimieren und als «besser als nichts tun» darzustellen. Es sind aber immer die andern, die etwas tun sollen. Wollen wir verzichten und unter Umständen ganze Wirtschaftszweige ruinieren? Ökologie ist heute vor allem ein lukratives Nischengeschäft und weniger verbunden mit einer unternehmerischen Haltung. Wir verhalten uns gegenüber der Umwelt offenbar nachhaltig schlecht, gedankenlos und eigennützig. Wir wollen uns nicht ändern – denn mit einem grünen Mäntelchen lässt es sich doch ganz gut leben. Noch.