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Automatisierung? Umwerfend!

Uns allen sitzt ein gewaltiger Automatisierungsmoloch im Nacken. Letztlich geht es darum, mit weniger Aufwand gleich viel oder mehr Output zu erreichen. Ein Beispiel gefällig? Der Drachen hat den gesamten Stellenmarkt bereits gefressen, der sich von Print fast vollständig hin zu online verlagerte. Die gleichen Unternehmen, die analoge Zeugnisse ausdrucken, verlangen Bewerbungsdossiers in digitaler Form, worauf ebendiese Zeugnisse re-digitalisiert werden müssen. Denn die Automatisierung bringt es mit sich, dass Dossiers standardisiert werden müssen. Was dazu führt, dass auf jede Ausschreibung Hunderte von Bewerbungen eingehen – in der Regel. Die regionalen Arbeitsvermittlungsstellen (RAV) verlangen von den Stellensuchenden zwölf Bewerbungen pro Monat, was dazu führt, dass Tausende von hoffnungsvollen und aussichtslosen Bewerbungsdossiers losgeschickt werden. Kein Recruter schafft die Papierflut ohne digitale «Lesehilfe». Es braucht nun wiederum intelligente Software, welche die Digitalisierung automatisieren kann. Wenn zum Beispiel das Wort «Bachelor» nicht im Dossier vorkommt, kann die Software das erkennen. Eine andere Barriere für Erfahrungsschatz und Kompetenz ist der Jahrgang. Wenn da 1967 oder älter steht, erkennt die Software das Alter, entsorgt das Dossier und formuliert gleich den netten Standard-­Absagebrief: «Sie haben ein ausserordentlich hoch­interessantes Dossier. Wirklich! Bitte fassen Sie unsere Absage nicht persönlich auf, wir haben einfach einem Bewerber den Vorzug gegeben, der das Stellenprofil noch etwas besser trifft.» Zynismus pur, wer würde eine Automatenantwort persönlich nehmen? Mit der Eingabe von «gefühlten 1977» kann man die Altersguillotine kurzzeitig umgehen. Im Fall. Ich frage mich, ob wir es mit einer schleichenden Idiotisierung der Wirtschaft zu tun haben? Hausgemachter Fachkräftemangel?

Die Automatisierung ärgert auch andernorts. Nämlich dort, wo Dokumente umwerfend vorgestaltet sind. Man braucht easy-going nur noch Texte und Bilder einzufüllen und fertig ist die Doktorarbeit. Keine Ahnung, wie es Ihnen dabei geht, aber Word oder PowerPoint bieten Templates, die jenseits von Gut und Böse sind. Da fehlt jegliches Verständnis für schöne Dokumente oder für einen gelungenen PowerPoint-Vortrag.

Wie oft habe ich mich beim Onlineshopping schon geärgert. Nachdem ich minutiös auch die pingeligsten Angaben (keine Ahnung, warum die für den Unterhosenkauf mein Alter wissen wollen) eingegeben habe und bezahlen wollte, erfahre ich, dass die Sitzung zu lange gedauert hat und ich mich doch bitte neu einloggen solle. Und warum zum Henker ist dieses blöde Eingabefeld immer so kurz, dass ich meine Mailadresse oder einen Kommentar nicht ganz lesen kann? Es hätte Platz in Hülle und Fülle.

Wenn ich meinen Unmut bei einem Grossunternehmen telefonisch äussern möchte, werde ich erst in der telefonischen Warteansage fünfsprachig sediert oder mit Düdelidü-Musik genervt. Automatisierte Kommunikation ist oft Einweg-Kommunikation. Ohnmacht heisst ohne Macht. Und das wiederum kann persönliche, politische und gesellschaftliche Frustrationen hervorrufen.

Ralf Turtschi