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Schweizer Fachzeitschrift
für Publishing und Digitaldruck


Sean Smyth Einige Druckdienstleister sind bereits angekommen – Real Digital International im Süden von London gehört dazu. Das Unternehmen ist 2004 mit dem Anspruch an den Start gegangen, sich mit Transaktions- und Mailing-Anwendungen die Flexibilität und Wirtschaftlichkeit des Inkjetdrucks zu erschliessen. Zwei Single-Pass-Inkjetdrucksysteme verband es mit einem Bahntransportsystem zu einer richtungsweisenden 650-mm-Inkjet-Duplex-Produktionslinie in Vollfarbe. Als die Farbqualität hinter den Erwartungen anspruchsvoller Markenartikler zurückblieb, entwickelte Real Digital International kurzerhand neue Papierbeschichtungen.

Jüngster Neuzugang im gut aufgestellten Maschinenpark sind zwei Truepress Jet520-Duplex-Produktionslinien aus dem Hause Screen – doch dabei dürfte es nicht bleiben ... «Unser Erfolg hat einen Namen: Inkjet. Wendig und vielseitig agieren wir damit an der Spitze des Marktes – um neue Nachfragetrends nicht nur aufzugreifen, sondern von Anfang an mitzugestalten», sagt David Laybourne, Geschäftsführer bei Real Digital International. Und das Verfahren gewinnt zusehends an Reife: «Fortschritte gibt es insbesondere bei den Tinten zu verzeichnen. Bei erweitertem Farbraum können wir mittlerweile die unterschiedlichsten Papiere ohne Vorbehandlung bedrucken», ergänzt Laybourne, «wird jetzt die Tinte noch bezahlbarer, gehört dem Inkjetdruck klar die Zukunft.»

Schlüsselfaktor Tintenkosten

Die Tintenkosten sind der springende Punkt. Im Unterschied zum Markt für Druckfarben, auf dem sich zwar auch einige Maschinenhersteller, in erster Linie aber zahlreiche Spezialisten tummeln, wird das Angebot an Tinte klar von einer Seite dominiert: den Druckerherstellern. Dass diese versucht sind, über die Preisgestaltung in die eigene Tasche zu wirtschaften, liegt auf der Hand. Ähnlich verhält es sich bei weiteren Verbrauchsmaterialien, wie Druckköpfen oder Reinigungsmitteln. Richtig zum Tragen kommen die Kostenvorteile des Inkjetdrucks nur bei kleineren Stückzahlen. Je grösser die Auflagen und je höher der Farbauftrag, desto attraktiver sind konventionelle Druckverfahren.

Eine andere Hemmschwelle, die davon abhält, zu Inkjet-Technologie zu wechseln, besteht darin, dass speziell behandeltes Papier benutzt werden muss und nicht auf glatte Oberflächen gedruckt werden kann. Die neueste Generation von Inkjet-Druckmaschinen schafft diese Nachteile jedoch aus der Welt. Laut Peter Wolff, Leiter der Commercial Print Group von Canon EMEA, sollen mit der neuen Image­Stream-Serie noch einmal gänzlich neue Zielgruppen angesprochen werden können, da diese gestrichene Offsetpapiere mit unterschiedlichen Oberflächen (matt, seidenmatt, glänzend) ohne Mehraufwand verarbeite. Zahlreiche Akzidenz- und Verlagsdruckereien nutzen sie bereits für Kataloge, Zeitschriften und mehr. «Die Flexibilität und Wirtschaftlichkeit des Digitaldrucks verbinden sich mit der Produktivität und Bildqualität des Offsetdrucks», so Peter Wolff.

Buchdruck als Vorreiter

Eine der Bastionen des traditionellen Druckhandwerks hat der Inkjet bereits kräftig ins Wanken gebracht: den Bücherdruck. Neuauflagen vergriffener Titel, Selbstpublikation und Aktualisierungen sind prädestiniert für Book-on-Demand! Gedruckt wird nur, was aktuell gefragt ist. Die Flexibilität des Inkjet ermöglicht es, die Buchproduktion mit reduzierten Lager-, Vertriebs- und Finanzierungskosten neu zu gestalten, um so das verlegerische Risiko zu minimieren. Besonders attraktiv wird es, wenn automatisiertes Inline-Finishing ins Spiel kommt. Vom Druck über das Falzen und Zusammentragen zum fertigen Buch geht alles in einem einzigen Arbeitsgang. Formaten und Seitenzahlen sind kaum Grenzen gesetzt und zusehends wird nicht mehr nur in Schwarzweiss, sondern auch in Farbe produziert.

Eins zu eins kann dieses Erfolgsmodell nicht auf andere Hochburgen des konventionellen Drucks übertragen werden. Die grossen Druckmaschinenbauer lassen sich in Sachen Effizienzsteigerung einiges einfallen. Gefragt sind «Querdenker» unter den Druckdienstleistern, die Gewohntes hinterfragen, damit Inkjet zu seinen ureigenen Stärken auflaufen kann.

Konkurrenz für den Offsetdruck

Beste Voraussetzungen dafür bieten Neuerungen der Hersteller: Mit einer offsetnahen Bildqualität punktet beispielsweise das 2014 eingeführte Ricoh Pro VC60000, ein High-Speed-Endlosdrucksystem in Vollfarbe. Von ersten Erfahrungen mit dem Arbeitstier berichtet Jukka Saariluoma, Director der finnischen Hansa Print: «Inkjet als Ersatz für Offset war für mich bisher bestenfalls Zukunftsmusik, doch die Pro VC60000 hat mich eines Besseren belehrt. Hansa Print erwirtschaftet jährlich rund 70 Mio. Euro über ein denkbar breites Portfolio – von POS-Materialien über Direktmarketing bis hin zu Zeitschriften und Büchern.

Einigkeit herrscht derweil unter den Marktanalysten: Auch weiterhin stehen die Zeichen für Inkjet klar auf Wachstum. Von 23 auf 70 Mrd. Euro sieht beispielsweise Smithers Pira den weltweit im Inkjetdruck erwirtschafteten Umsatz im Zeitraum 2010 bis 2020 in die Höhe schnellen (Druck- und Verpackungsindustrie), wobei die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate zwischen 2015 und 2020 mit 12,7% veranschlagt wird. Untermauert wer-den solche Analysen von den Herstellern: Mit 100 Milliarden beziffert HP die Anzahl der Seiten, die seit 2009 allein auf HP-Inkjetdrucksystemen produziert wurden.

Aufbruch in neue Gefilde

Inkjet arbeitet ohne Berührung des Substrats und eignet sich damit als einziges industrietaugliches Druckverfahren für eine verblüffende Vielfalt starrer und flexibler Materialien nahezu jeder Form und Grösse. Auf Textil ist das Verfahren ebenso zu Hause wie auf Glas, auf Keramikfliesen wie auf Kugelschreibern. Vom Industriedruck zu Verpackungen, vom Wohndekor zur Werbetechnik reichen die Anwendungen, die sich damit ins Visier nehmen lassen. Erst recht, wenn Versionierung oder Individualisierung dazukommen.

«Inkjet ist heute die bevorzugte Drucktechnik für Keramik und andere dekorative Materialien», meint John Harper Smith, Business Development Manager bei Fujifilm Speciality Ink Systems. Auf diese Weise öffnet Inkjet Türen zu verwandten Geschäftsfeldern, die sonst von den traditionellen Druckherstellern weiterhin unbeachtet blieben. «Das Hauptaugenmerk verlagert sich dabei von Kleinauflagen und Personalisierung zu dem, was für die direkte Konkurrenz zu konventionellen Maschinen erforderlich ist: einem höheren Durchsatz bei einem untadeligen Druckbild», sagt Paul Adriaensen, PR Manager bei Agfa Graphics, «hinzu kommt das Potenzial des berührungslosen Tintenauftrags, das in der Druckindustrie eine völlig neue Dynamik geschaffen hat.»

So bringen Hersteller neue Inkjet-Lösungen auf den Markt, um mit verkürzten Produktionszeiten und erhöhter Produktivität die Nachfrage des Marktes zu befriedigen. Perfekt auf diese Vielfalt abgestimmt ist ein ständig wachsendes Angebot von Drucksystemen vom Etiketten- zum XXL-Format, Flachbett, Rolle-zu-Rolle oder beides in einem. Kontinuierlich getüftelt wird ausserdem an den Druckköpfen und Tintenrezepturen.

Blickpunkt Tinte

Bessere Verdruckbarkeit, höhere Farbbrillanz, erweiterter Farbraum, ökologisch nachhaltigere Inhaltsstoffe – in wohl kaum einem Bereich der Druckindustrie wird so intensiv geforscht wie bei den Tinten. Und so rückt die viel zitierte Offsetanmutung in die Reichweite des Inkjetdrucks, ermöglicht durch das Zusammenspiel von anspruchsvollem Farbmanagement mit immer zahlreicheren Inkjet-optimierten Papiersorten. Hinter diesen Entwicklungen stehen in erster Linie die Hersteller der Drucksysteme oder ihre Lizenznehmer. Dies bietet den Vorteil perfekt eingespielter Systemlösungen aus einer Hand. Allerdings auch den Nachteil des mangelnden Wettbewerbs, der sich vor allem in überhöhten Preisen niederschlägt. Besonders ausgeprägt ist dieses Phänomen im mittleren bis oberen Marktsegment: Je leistungsstärker ein Drucksystem, desto seltener sind Anbieter von Alternativtinten anzutreffen.

Dass das nicht so sein muss, beweist der Tintenhersteller Collins Inkjet aus Cincinnati, der ein breites Spektrum von Rezepturen (wasser-, öl-, lösemittelbasiert) und Härtungsverfahren (UV, UV-LED, Elektronenstrahl) im Angebot hat. «Seit mehr als 25 Jahren agieren wir erfolgreich mit einem schlanken, allein auf Tinte ausgerichteten Geschäftsmodell, das uns im Vergleich zu Druckerherstellern eine moderatere Preisgestaltung ermöglicht. Es liegt auf der Hand: Je attraktiver die Gesamtbetriebskosten einer Lösung, desto grösser ihr Zuspruch bei Druckdienstleistern, die in aller Regel mit knappen Budgets zu kämpfen haben», sagt Chris Rogers, Vice President Sales &  Marketing bei Collins.

Aus Nischen zum Massenmarkt

Druckköpfe, Tinten, Substrate, Druckersoftware, Materialtransport und Härtungssysteme verbinden sich zu perfekt eingespielten Systemlösungen, an denen kontinuierlich weiter gefeilt wird. Ganz so neu ist die Idee, die hinter dem Inkjetdruck steht, nicht. Relativ neu ist aber, dass sich der fest in Nischenmärkten etablierte Inkjet auch im klassischen Auflagendruck breitmacht. Schon jetzt geraten die Bastionen des Bogenoffset- und Schmalbahnflexodrucks ins Wanken und auch Anbieter von Rollenrotationen und grösseren Flexodruckmaschinen sollten sich nicht allzu sicher wähnen. Der Wandel, der dadurch in der Druckindustrie ausgelöst wurde, hat wohl gerade erst begonnen.

Bisweilen mag natürlich eine ge­wisse Portion Hype ins Spiel kommen, doch kann die wachsende Schar von Druckdienstleistern, die mit dem Geldbeutel votieren, wirklich unrecht haben? Wirtschaftlichkeit, Bildqualität, Kundenanforderungen, Diversifikation – dies sind im Wesentlichen die Gründe, aus denen Druckdienstleister ihre Ausstattung überdenken. Inkjet punktet in allen vier Bereichen – was natürlich nicht heissen soll, dass es nichts mehr zu verbessern gäbe: Neue Anwendungen, attraktivere Gesamtbetriebskosten, gesteigerter Durchsatz – welche Trümpfe die Hersteller auszuspielen haben, wird die Drupa Anfang Juni zeigen.

www.drupa.de