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Schweizer Fachzeitschrift
für Publishing und Digitaldruck


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Oh Publishing,was ist bloss aus dir geworden?

Gedrucktes ist stumm. Inhalte für Web und Mobile dagegen hinterlassen Spuren. Publishing für Web und Mobile wächst mehr und mehr mit Big Data zusammen. Wo sind die Grenzen zum Missbrauch, gibt es Recht auf Schutz und wo bleibt das Gesetz?

Andreas Burkard Big Data ist ein neuer Ausdruck für ein unvorstellbar gigantisches Datenvolumen. Bei Big Data handelt es sich um ermittelte Daten aus unterschiedlichen Quellen, welche mittels Algorithmen aufbereitet werden. Zwar sind nicht alle Daten von hoher Qualität, dennoch wird Big Data gerne als Öl der Zukunft genannt.

Die erfassten Daten stammen derzeit zu einem beträchtlichen Teil aus der elektronischen Kommunikation. Die digitalen Fussabdrücke, welche wir in elektronischen Medien hinterlassen, sind gigantisch. Für die Betreiber ist es leicht, Daten zu erfassen, auszuwerten und zu verkaufen. Hier mischt auch Adobe kräftig mit.

Adobe Marketing Cloud

Google war Pionier. Daten sammeln, Daten auswerten, Daten verkaufen, das machen inzwischen viele andere auch. Adobe versucht, mit der Bezeichnung Marketing Cloud in diesem Bereich durchzustarten. Die Firma will demnach das lukrative Feld von Datensammlung, Auswertung und Bereitstellung nicht bloss den etablierten Playern überlassen. Adobe will selbst aktiv mitmischen und ihre Produkte mit der Marketing Cloud verknüpfen. Dazu sind diverse mietbare Module verfügbar.

Einzelne Marketing-Cloud-Module können die digitalen Medienkanäle planen und verwalten, andere können Daten messen und auswerten und wieder andere versprechen, die Übersicht der stetig steigenden Marketingdaten zu behalten.

Adobe Analytics ist zum Messen, Analysieren und Teilen von Informationen aus Web, Mobile und anderen digitalen Kanälen. Ferner kann die Interaktion des Kunden auf den Marketingkanälen überwacht und ausgewertet werden.

Adobe Social ist für die Verwaltung und Bewirtschaftung der Social-Media-Kanäle und gibt unter anderem Einblick, wie verschiedene Kundengruppen in den sozialen Netzwerken vertreten sind und kommunizieren.

Adobe Media Optimizer ist zur Optimierung der Such- und Social-Media-Anzeigen, basierend auf den Interessen und Anliegen der jeweiligen Kunden und Segmente.

Adobe Target wiederum bietet personalisierte Inhalte und verhaltensgesteuerte Anzeigen. Es eignet sich zum schnellen Testen und Optimieren von Inhalten, damit der richtige Kunde die zu ihm passende Botschaft bekommt.

Der Adobe Experience Manager ist für die zentrale Organisation und Verwaltung der geräteübergreifenden digitalen Inhalte zuständig.

Adobe Campaign ist die Schaltzentrale für die Planung und Ausführung von Kampagnen auf allen Marketingkanälen.

Die Lösungen sind abgestimmt für unterschiedliche Bedürfnisse im Einzelhandel, für Finanzdienstleistungen, Behörden, Hightech, Telekommunikation, Medien und Unterhaltung.

Neue Dienstleistungen

Solche Datensammlungs- und Auswertungslösungen werden gewissermassen als erweiterte Dienstleistung hinter die Web- und Mobile-Projekte geschaltet. Für den Benutzer ist dies weder sichtbar noch erkennbar. Sein digitales Verhalten bei der Nutzung eines Magazins auf einem iPad beispielsweise wird dem Betreiber als Statistik und Diagramm weitergeleitet. Mediendienstleister können die Wertschöpfungskette von Projekten aus Web und Mobile mit der Datensammlung und der Datenauswertung verlängern. Doch solche Lösungen, ganz egal von welcher Firma und aus welchem Erdteil betrieben, werfen auch Fragen auf und wecken Befürchtungen.

1000 Daten pro Person

Ziel der Datenabschöpfung ist es, die Leute umfassend zu profilieren, Profile zu verknüpfen und damit zu handeln.

Unverblümt erklärte kürzlich ein Anbieter eines sozialen Netzwerks sein Ziel. Sie wollen pro User 1000 Daten generieren. Mit einer solchen Datenmenge kann man die Person sehr gut in praktisch allen Facetten des Lebens erfassen. Bei einem solchen Volumen spricht man denn auch von qualitativ guten Daten und die können entsprechend besser verwertet werden.

Mit dauernd ändernden Bestimmungen bei Anmeldung, Download oder Updates wird die Datenabschöpfung raffiniert legalisiert. Viele Menschen glauben auch heute noch, eine Suchmaschine sei ein Service public. Google ist nützlich, doch im Wesentlichen darauf spezialisiert, Daten zu sammeln, aufzubereiten und für ihre Zwecke anzubieten.

Funkzellen und GPS zeichnen heute ein exaktes Bewegungsprofil eines Menschen auf. Unsere Rechner sind inzwischen «Schwatzboxen» und schöpfen ungefragt Daten ab. Bald werden Sensoren in Geschäften und öffentlichen Räumen unsere Bewegungen aufzeichnen und auswerten. Die App für Gesichtserkennung lässt grüssen.

Die Teilnahme bei Facebook ist bis heute kostenlos, dennoch ist der Konzern ein finanzielles Schwergewicht. Mit der praktizierten Abschöpfung der Daten aus den sozialen Netzwerken entsteht schnell ein exaktes Nutzerprofil.

Individuelle Anzeigen

Individuelle Anzeigen sind heute schon gängig. Durch die Analyse von IP-Adressen oder der Funkverbindung ist es möglich, eine Person oder eine Gruppe mit ihren dazugehörigen Profilen ausfindig zu machen. Die Analyse von IP-Adressen ist bei den Banken aus Sicherheitsgründen schon lange Realität. So kann es vorkommen, dass eine Zahlung mit der Kreditkarte über einen anonymen Server oder in einem verdächtigen geografischen Bewegungsradius nicht ausgeführt wird.

Newsportale haben nebst ihren Inhalten auch Platzhalter für Anzeigen. Gewisse Platzhalter können direkt auf das Profil des Betrachters zugeschnitten werden. Personalisierte Inhalte auf hochfrequentierten Websites und für Mobiles sind inzwischen die Regel.

Alles bleibt anders

Individuell angepasste Preise sind ein weiteres Phänomen. Preise in Onlineshops können im Laufe des Tages variieren. Gut beobachten kann man das auf gewissen Flugportalen. Bei Fluggesellschaften wird Dynamic Pricing verwendet, um Flugpreise an bestimmte Tageszeiten, Wochentage und Tage vor Abflug anzupassen. So kann es durchaus sein, dass, wenn man eine Destination mehrmals am gleichen Tag eingibt, sich das Angebot verteuert. Der Anbieter täuscht so ein knappes Angebot vor und drängt zu einer Kaufentscheidung. Löscht man die Webdaten, wechselt man den Browser oder gar den Rechner, so kann das Spiel wieder von vorne beginnen.

Das dynamische Preismanagement funktioniert über Kunden-, Markt- und Konkurrenzbeobachtung. Hier werden Tracking Cookies aufgerufen. Diese dienen als Spyware der Überwachung und Kontrolle in den Datenübertragungsverbindungen. Nebst üblichen harmlosen und für einige Bereiche gar nötigen Tracking Cookies gibt es auch solche, die gezielt ausspionieren und Daten weiterleiten.

Datensammlung total

Wir alle müssen zur Kenntnis nehmen, dass es im Medienkonsum ganz viele ausgeklügelte Überwachungs- und Auswertungssysteme gibt. Unser digitales Verhalten wird ständig ungefragt erfasst und ausgewertet.

Hier mischt auch Apple – früher Kämpfer gegen Überwachung – kräftig mit. Die Kunden sind Fans. Für eine iWatch, deren Akkuleistung bei reger Nutzung einen einzigen Tag reicht, stehen die Fans vor den Apple-Tempeln Schlange. Die iWatch auf der Haut wird zum Eldorado für Datensammler.

Ein weiteres Datenabschöpfungs-Eldorado sind die Clouddienste. Grosse Teile der Softwareindustrie sind bekanntlich dazu übergegangen, die Programmlizenzen ohne Entscheidungsfreiheit nur noch im Mietmodell anzubieten. Ohne gültiges Abo ist das Öffnen einer Datei nicht mehr möglich. Die Datenspeicherung in die Cloud ist aber erst am Anfang. Neue Lösungen von Adobe wie Adobe Market und Creative Profiles zeigen auf, wo es langgeht. Man kann davon ausgehen, dass es in ein paar Jahren zuerst erschwert, später dann verunmöglicht wird, seine Daten lokal zu speichern. Mit riesigen Budgets werden Ängste aus dem Weg geräumt. Dass die Clouddienste von Adobe und Apple geknackt wurden, wird hingegen in gekonnter Manier schnell unter den Tisch gewischt. Ein Entsetzen der Fans war nicht spürbar.

Im September 2013 riss es den US-amerikanischen Cloud-Storage-Anbieter Nirvanix in den Konkurs. Dies trotz solider Kundschaft, unter anderem mit Fünfjahresvertrag von IBM. Die Kunden von Nirvanix hatten vier Wochen Zeit, ihre Daten zu entfernen.

Und wenn das Wort Cloud auf einmal anrüchig wird, so heisst es halt plötzlich Webspeicher. Die Bezeichnung SkyDrive hat Microsoft für Ihre Clouddienste elegant in das harmloser klingende OneDrive umgewandelt.

Die schweizerischen Detailhandels­unternehmen Migros und Coop praktizieren seit bald 20 Jahren mit Cumulus und Supercard ein Bonuspunktesystem. Die aus den Einkäufen gesammelten Daten werden intern ausgewertet. Doch im Gegensatz zur heute praktizierten Datensammlung bekommt der Kunde eine Gegenleistung in Form von Gutscheinen. Zudem ist das Mitmachen in diesen Bonusprogrammen bedingungslos freiwillig.

Affäre Snowden

In den letzten Jahren hat die Affäre um die NSA (National Security Agency) in einem noch viel grösseren Umfang für Schlagzeilen gesorgt. Seit den Enthüllungen von Edward Snowden ist bekannt, dass digitale Kommunikation auch vor staatlichem Zugriff nicht sicher ist. Durch das dortige Staatsschutzgesetz, den Patriot Act, müssen US-Unternehmen den US-Behörden Zugriff auf ihre Server gewähren.

Vielen Menschen wurde damit klar, was eigentlich abgeht. Vor allem auf politischer Ebene sorgten die Enthüllungen für Empörung. Die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff sagte daraufhin an der UNO-Generalversammlung: «Wenn das Recht auf Privatsphäre nicht respektiert wird, kann es keine Meinung und Denkfreiheit, also keine echte Demokratie geben.»

Kürzlich wurde Snowden mit dem alternativen Nobelpreis ausgezeichnet. Er wurde geehrt, weil «… er mit Mut und Kompetenz das beispiellose Ausmass staatlicher Überwachung enthüllt hat, welche grundlegende demokratische Prozesse und verfassungsmässige Rechte verletzt» (Zitat der Stiftung Right Livehood Award, Stockholm).

Grenze zu Missbrauch

Die heutige Praxis mit der Abschöpfung teils sensibler Daten ist eine Gratwanderung zwischen Missbrauch, Anstand und Verstoss gegen Datenschutzrichtlinien. Eine globalisierte Marktliberalisierung und Missbrauch – oder gar Betrug – können nahe beisammen sein.

Es gibt heute eine Reihe von Angeboten, mit welchen sich der Einzelne im Web, auf dem Mobile und auf anderen Kanälen schützen kann. Mit VPN Private Tunnel beispielsweise erscheint man als Käufer mit der IP-Adresse aus einer anderen Region oder einem anderen Land. Mit NoScript, Ghostey oder Kaspersky Internet Security wird Spyware gemeldet oder verhindert. Doch wer garantiert, dass die Anbieter ihrer oft kostenlosen Produkte nicht selber mit den Daten handeln?

Medienkompetenz und Politik

Die Thematik über die heutige Praxis der Datensammlung und Auswertung ist brisant. Was es jetzt braucht, ist eine breitere Diskussion über die Machenschaften der Konzerne, über das Recht auf Privatsphäre, über das kompromisslose Recht auf Vergessen im Internet und über Datenschutz allgemein. Es braucht mehr Medienkompetenz, mehr Bewusstsein über Überwachungsvorgänge in der Informationsflut der elektronischen Medien. Gefordert sind ausserdem Eltern, unsere Schulen sowie der Gesundheitsbereich mit vermehrter Aufklärung über den Stressfaktor von elektronischen Medien bei exzessiver Nutzung.

Es ist das Recht jeder neuen Generation, die Gesellschaft nach ihren Vorstellungen weiter zu formen. Doch das Handeln mit Daten, das Ausspionieren und die damit verbundenen Nebenschauplätze, dies alles ist über uns hereingebrochen.

So braucht es jetzt endlich griffige Richtlinien und Gesetze. Auf politischer Ebene verdient das Thema eine höhere Gewichtung und vor allem klare Grenzen über diese Machenschaften. Vermehrt muss auf Volksvertreter geachtet werden, die das Thema zum Schutz der Anwender vorantreiben. Es braucht den Ausbau des Datenschutzes, vermehrtes internationales Handeln und letztlich abgestimmte Gesetze zum Schutz vor Überwachung und Schnüffelei. Wenn nötig unter Ausschluss der ewigen Blockierer, den USA und Grossbritannien, welche in Bezug auf Datenverwertung eine andere Rechtsauffassung haben als die EU und die Schweiz.

Freie Fahrt zu Big Brother?

Fünf vor zwölf war gestern. Viel zu stark werden heute Firmen glorifiziert, welche diese Entwicklungen vorantreiben. Viel zu unkritisch sind Anwender geworden. Viel zu stark wird die Kommunikationstechnologie verherrlicht. «Wes Brot ich ess, des Lied ich sing» ist die Devise der Nutzniesser – anstatt das Offene klar anzusprechen.

Ging man früher für Gerechtigkeit auch mal auf die ­Strasse, so feiert sich eine neue Generation mit ihren ­Mo­biles auf der Interstate 1984 schnurgerade in Richtung Big Brother. Und die Politik, die ansonsten jeden kleinsten Teil des Lebens mit Bestimmungen zu regeln weiss, begegnet diesem brennenden Thema hilflos. Sie hinkt der gesellschaftlichen Aufgabe hinterher, die immer breiter praktizierte Datenabschöpfung einheitlich zu regeln. Ohne besseren Schutz wird die jetzt betriebene Datenabschöpfung der Vorbote der dann legitimierten, totalen Überwachung sein.

Der Autor

Andreas Burkard ist freiberuflicher Gestalter für Print- und elektronische Medien. Zu seinen Schwerpunkten gehört unabhängige Beratung und Ausbildung auf allen gängigen Publishing-Programmen und deren Workflows.

www.BurkardPublishing.ch