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Schweizer Fachzeitschrift
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Story First! Storytelling mit Fokus auf den Nutzer

Seit der Steinzeit lieben Menschen Geschichten. Auch heute lässt sich Alt und Jung von guten Storys begeistern, egal ob am Lagerfeuer, beim Film, im Print, im Web und auch auf mobilen Geräten. Aber was macht eine gute Story aus?

MATTHIAS GÜNTHER Wer kennt sie nicht, die langweilige App, die wir nach zehn Sekunden wieder löschen. Und das spannende Magazin, das uns die Zeit vergessen lässt?

Erfolgreiche Publikationen, egal ob Print, Web oder App, nutzen eine Technik, die wir neudeutsch Storytelling nennen: das Geschichtenerzählen.

Gute Geschichten erzählen sich nicht zufällig. Es gibt Muster und Vorgehensweisen, die sich über Jahrtausende entwickelt und herausgebildet haben.

Gute Geschichten

Nehmen wir als Analogie den Spielfilm: In einem Film wird alles in den Dienst der Story gestellt: Schauspieler, Schauplätze, Licht, Musik und dergleichen werden immer mit Bezug zur Geschichte ausgewählt. Sie sollen die Story unterstützen und für sich wirken lassen. Es kommt eben nicht nur auf die Geschichte selbst an, sondern auch darauf, wie sie erzählt wird.

Und Gleiches gilt für Publikationen und Werbung, wenn wir gute Storyteller werden wollen. Die Story wird zum Rahmen, in welchem innerhalb der Möglichkeiten des Mediums mit allen Mitteln inszeniert wird. Guten Storystrukturen sind vier Prinzipien gemeinsam:

    Sie verfügen über eine Hauptfigur, mit der wir uns identifizieren können.
    Es gibt ein Ziel, das erreicht werden soll.
    Auf dem Weg zum Ziel kommt es zu verschiedenen Konflikten, die Spannung aufbauen.
    Am Ende steht eine Lösung, die meist auch eine Veränderung zum Ausgangspunkt darstellt.

Eine gute Geschichte ist nicht einfach das simple Aneinanderreihen von Sequenzen – es braucht Fokussierung und Reduktion, um die Geschichte zum Erlebnis werden zu lassen.

Das Wichtigste dabei ist der Einstieg. Wir müssen die Hauptfigur und ihre Motivationen verstehen können. Wir müssen uns mit ihr identifizieren und eine emotionale Verbindung zu ihr aufbauen können. Je besser wir die Hauptfigur kennen oder zu kennen glauben, desto besser können wir ihre späteren Handlungen nachvollziehen.

Storytelling im Publishing

Im Publishing und in der Werbung betrachten wir die Hauptfigur von zwei Seiten:

Einerseits ist es, ähnlich wie im Film, eine Person, mit der sich unser Nutzer identifizieren kann: beispielsweise der Protagonist einer Reportage oder eine Figur in einer Marketingkampagne.

Andererseits ist es aber auch der Nutzer selbst, der unsere Hauptfigur ist. Auch er setzt sich bei der Nutzung unseres Mediums bestimmte Ziele und stellt sich im Umgang damit Konfliktsituationen. Auch er muss Aufgaben meistern, die wir ihm bewusst oder unbewusst stellen. Das Verständnis dieser Doppelseitigkeit der Hauptfigur ist wesentlich für gutes Storytelling im Publishing.

Storytelling ist als Begriff gerade populär, die Methoden dahinter sind aber alles andere als neu und werden im Print in Magazinen und in der Werbung seit Jahrzehnten angewandt.

Storytelling in digitalen Medien

In digitalen Medien, sei es im Web, auf dem Smartphone, dem Tablet oder etwas ganz anderem, entsteht oftmals über multimediale und interaktive Komponenten ein tieferer Zugang zu den Inhalten.

Das Repertoire klassischer Medien steht weiterhin zur Verfügung, wird aber vollkommen neu angereichert (en­riched). Digitale Medien ermöglichen so Storytelling-Vorgehensweisen, die den Nutzer stärker einbinden – also auch mehr Lücken lassen können.

Drei Cluster im digitalen Storytelling

In drei Bereichen ist in digitalen Medien ein tiefer gehendes Storytelling möglich als bei gedruckten Medien. Denn Inhalte wollen digital anders und breiter inszeniert werden.

Emotion:
    Da Platz – im Gegensatz zu Printmedien – kein Kostenfaktor ist, können wir Layouts grosszügiger montieren. Dies führt häufig zu vollflächigen Bildern oder Bildstrecken, die für sich bereits eine emotionale Wirkung entfalten. Auch technische Themen wollen auf diese Art aufbereitet werden. So entsteht eine ganz andere Art der «grafischen Kuration».
Konsum:
    Storytelling, das vom Nutzer konsumiert wird, erlaubt auch in digitalen Medien, die Möglichkeiten klassischer Medien wie Infografiken, Fotos oder Texte zu verwenden. Dieses multimediale Arsenal wird von uns als Nutzern eher betrachtend wahrgenommen und ergänzt sich zusammen zur Story.
Einbindung:
    Der entscheidende Unterschied zu der Art, wie Geschichten in gedruckten Medien erzählt werden können, liegt in der Art der Einbindung des Nutzers: Wir erleben Infografiken interaktiv, erschlies­sen verschiedene Inhaltsebenen (etwa über Pop-ups), kombinieren Kontexte und nutzen Funktionen der Geräte (wie den Bewegungssensor oder die Geolokalisierung). Erst durch diese Interaktivität wird ein gänzlich neues Storytelling möglich.

Achtung!

So mächtig die Möglichkeiten sind, als Storyteller müssen wir aufpassen, dass wir uns von den Effekten (digitale Enrichments) nicht dazu verleiten lassen, sie nur einzusetzen, weil es die Möglichkeit dazu gibt oder weil die Effekte einfach cool aussehen.

Storytelling von Unternehmen

Ein gutes Beispiel ist die App zum Audi A1. Dort stellt Audi das Auto nicht wie in einem klassischen Katalog anhand von technischen Daten oder Ausstattungsmerkmalen vor, sondern inszeniert das Produkt auf einer emotionalen Ebene. So soll vermittelt werden, dass der A1 ein Auto für Individualisten und eigene Charaktere ist.

Dazu werden verschiedene Testimonials (Käufergeschichten) kreiert, die ihren eigenen A1 konfigurieren sollen. In der App werden die Personen grosszügig eingeführt und über ein Farbschema eingeordnet. Anschliessend können wir uns das «persönliche» Auto ansehen, das sich ebenfalls am aufgebauten Farbschema orientiert. Zu jedem Auto sind die verwendeten Konfigurationseinstellungen und Fotos der Innenausstattung hinterlegt. Ein direkter Link in den interaktiven Produktkonfigurator gibt uns die Möglichkeit, die Konfiguration anzupassen.

Wir werden als Nutzer direkt in die Geschichte eingebunden, da wir uns mit den gezeigten Charakteren emotional identifizieren können. Sogar wenn wir gegenüber den Testimonials nicht mithalten können, haben diese für uns doch Vorbildcharakter und geben uns mögliche Nutzungsszenarien mit auf dem Weg. Da ein Auto oft auch Ausdruck der eigenen Persönlichkeit ist, ist die Überzeichnung der Personen sogar vorteilhaft.

Die Geschichte hat ein offenes Ende, da wir direkt in die Konfiguration des Autos einsteigen können und uns dabei wahrscheinlich an den vorgegebenen Bildern orientieren werden. So sind die Möglichkeiten des digitalen Mediums geschickt mit der Story­telling-Strategie verwoben.

Redaktionelles Storytelling

In einem Artikel aus der englischen Ausgabe der digitalen «National Geographic» geht es um Personen, die als Entdecker an ihre Grenzen gehen. Der Artikel wird mit einem doppelten Intro eingeleitet: Zuerst kommt eine textliche Einführung in das Thema, während wir auf der zweiten Seite mit der plakativen Frage «Bist du risikofreudig?» konfrontiert werden. Die Frage wird mit einem im Stil eines Trailers geschnittenen Intro untermalt.

Nach dieser Einstimmung werden die verschiedenen Protagonisten vorgestellt. Zu jeder Person gibt es neben einem grossen Bild und einem Text ein kurzes Videointerview, das den Text einerseits ergänzt, andererseits aber auch für sich alleine stehen kann.

Dieser Artikel arbeitet vor allem auf der emotionalen und konsumorientierten Ebene und nutzt dabei die Möglichkeiten des Mediums aus. Dies zeigt sich vor allem an der schwarzen Introseite: Diese Seite bindet uns über die Fragestellung direkt ein. Gleichzeitig wird über das optional verfügbare Video die Fragestellung in sich aufgelöst und wir können unsere eigene Antwort in Bezug setzen zu den Statements der Protagonisten. Die Seite bildet den emotionalen Rahmen für den Rest des Artikels. Ähnlich einem Filmteaser macht sie uns neugierig auf das Folgende.

Bei der Darstellung der Personen haben wir die Auswahl, wie wir uns am liebsten mit ihnen auseinandersetzen möchten: Textlich, über das Video oder über beides zusammen. Alle drei Wege funktionieren, bedingen einander aber nicht. Diese Form der Auswahl ist zentral für digitale Medien: Uns wird nicht ein Konsumweg aufgezwungen, sondern es stehen mehrere zur Auswahl, die wir je nach Neigung und Interesse wählen können.

Die Story «funktioniert» auf dem Tablet, obwohl kein explizites «Einbindungs-Enrichment» vorhanden ist. Alleine durch die Art der Inszenierung werden wir emotional berührt und bei der Stange gehalten. Die Story wird geschickt aufgebaut und spannt sowohl den grossen Bogen zwischen den Personen als auch den kleinen mit den in sich geschlossenen Mini­geschichten der einzelnen Seiten.

Crossmediales Storytelling

Bisher haben wir in Bezug auf Storytelling einzelne Medien immer isoliert betrachtet. Da immer mehr Medien um unsere Gunst buhlen und sich gleichzeitig unsere eigene Mediennutzung fragmentiert, werden crossmediale, also medienübergreifende Storytelling-Ansätze immer wichtiger.

Es gibt viele kreative Ansätze, Ge­schichten über mehrere Medien hin­weg zu erzählen. Dazu ist eine durchgängige Crossmedia-Planung sehr hilfreich. Ein gutes Beispiel ist hierfür die Serie «About:Kate» des deutsch-französischen Kultursenders Arte. Im Buch «Agiles Publishing» beleuchten wir ausführlich, wie die verschiedenen Medien dort zusammenspielen.

User Experience

Wir haben den Content, wir haben die Strategie, wir haben die Geschichten, die unsere Botschaft in leicht verständliche Bilder packen. Was fehlt noch?

Stellen wir uns ein Kino vor. Klar, ohne eine gute Filmgeschichte wird kein Zuschauer eine gute Erinnerung an uns haben («das war ein schöner Abend»). Aber die Lovestory oder der spannende Thriller allein reichen nicht: Den Gesamteindruck, den unsere Kinobesucher mit nach Hause nehmen, prägen beispielsweise auch:

  • Inszenierung, Umgebung
  • Gastroangebote, Parkplatzangebot
  • Raumtemperatur, Licht
  • Freundlichkeit des Kartenabreissers
  • Bequemer Sessel, Sitznachbar

Zum Erlebnis Kino gehört eben mehr als ein guter Film! Es sind genau diese anderen Dinge, um die sich User Experience Design kümmert: Eine gute Geschichte braucht ein funktionelles Ambiente, das

    auf dem Medium funktioniert,
    vom Nutzer intuitiv bedient werden kann und
    der Geschichte Raum gibt.

Bei vielen unserer Projekte sprechen wir oft stundenlang über das «Was machen wir?» und das «Wie machen wir es?» Auch viele Präsentationen oder Produktvorstellungen drehen sich hauptsächlich um diese beiden – ohne Zweifel wichtigen – Aspekte: Was und wie?

Viel wichtiger aber ist das Warum, der Zweck des Ganzen: Denn typischerweise werden Medien nur dann genutzt, wenn man einen direkten Vorteil daraus ziehen kann (der auch ein angenehmer Zeitvertreib sein kann). Und auch nur so entsteht die Bereitschaft, Geld für etwas auszugeben.

Digital First? Story First!

Bevor wir uns dieser im Prinzip un­ausweichlichen Erkenntnis zuwenden können, müssen wir noch eine Pirouette drehen, die auch viele Publisher gedreht haben: Als klar war, dass im Web andere schneller sind, während man selbst auf den Drucktermin warten muss, um eine Information online stellen zu können, haben viele Publisher einen Schwenk vollzogen: Neue Themen wurden, sobald sie fertig waren, ins Web gestellt und danach im Print zweitverwertet. So wurde dem schnelleren Medium Rechnung getragen und gleichzeitig die Marke im Digitalen gestärkt. Oftmals wird hier von Digital- oder Web-First-Strategien gesprochen: Das digitale Medium wird immer zuerst bedient, Print erst dann, wenn die Druckmaschinen laufen.

Einem solchen Strategiewechsel, der im Grunde sicher richtig ist und von vielen Digitaldenkern begrüsst wurde, liegt aber der gleiche Denkfehler zugrunde wie bei Print First: Unterschiedliche Medien sind nicht gleich schnell, sie haben verschiedene Geschwindigkeiten. Recycling ist nie ein sinnvoller Weg für hochwertige Inhalte.

Nur wenn wir die Geschichte in den Mittelpunkt bringen und sie zum Dreh- und Angelpunkt unserer Überlegungen machen, können wir wirklich sinnvoll mehrere Medien in ihren richtigen Geschwindigkeiten bedienen.

Wir nennen diesen Ansatz «Story First». Was heisst das? Erst mal bedeutet es, dass wir nichts zurückhalten oder aber vorziehen, weil irgendwo eine Druckmaschine gebucht ist. Story First bedeutet, dass wir eine Idee davon entwickeln, was eigentlich die Geschichte ist, die wir erzählen möchten. Und was diese Geschichte in ihrem Kern ausmacht. Sobald wir dies wissen, können wir uns daran machen, diese – für die Darstellung in unterschiedlichen Geschwindigkeiten – aufzubereiten. Dabei nehmen wir keine Rücksicht auf finanzielle oder politische Abwägungen zwischen verschiedenen Medien (Fraktionen). Eine Story funktioniert so, wie das Medium funktioniert. Nur was der Story dient, wird auch umgesetzt.

Klingt einfach, oder? Leider ist es das nicht, wie wir in vielen Apps und auf Websites sehen …

Die Artikelserie «Agiles Publishing» wird in der nächsten Ausgabe des Publisher fortgesetzt.

Das Buch «Agiles Publishing»

Erfolgreiche Produktionen von digitalen und crossmedialen Publishing-Erlebnissen sollten heute agil erstellt werden. Agil sein, also schnell und flüssig handeln können, dies ist das neue Fundament für Publishing und Marketing. Agil sein ist eine andere Art zu denken und zu agieren.

Im Buch werden die hier angerissenen Storytelling-Betrachtungen vertieft und es wird genau erklärt, wie Story First funktioniert. Ergänzt wird dies durch konkrete Tipps, Handlungsweisen und Werkzeuge. Weitere Themen sind:

  • Content-Strategie, Publishing-Strategien und Crossmedia-Planung
  • Storytelling, Story First und User Experience Design
  • Natürliches digitales Design, datengetriebenes Design
  • Responsive Design, digitale Anzeigen, Dynamic Publishing

Autoren: Georg Obermayr, Matthias Günther, Detlev Hagemann, 400 Seiten

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Der Autor

Matthias Günther hat als Produktowner seit 2003 Erfahrung mit Scrum, einer agilen Methodik. Er ist Hoch­schuldozent, Co-­Autor von drei Hügli-Büchern sowie Produktmanager des HTML5-basierten «App Studio» für InDesign und QuarkXPress. Er berät Kunden im Digital Publishing.