Halbwertszeit
Halbwertszeit
Die Welt der Technik dreht sich immer schneller und verunsichert zusehends Fachleute, die sich sicher im Sattel wähnten. Mit PDF wird alles besser bleiben.
RALF TURTSCHI O Gott, wie soll ich das alles noch mitkriegen? Man hat ja schon bessere Zeiten erlebt, damals im Bleisatz, wo niemand von Workflow oder von Prepress gesprochen hat, wo der Ablauf klar und der Faktor das Mass aller Dinge war. Faktor hiess der Abteilungsleiter der Setzerei, der die Arbeit verteilte und sie kontrollierte. Damals war richtig noch richtig richtig und falsch richtig falsch. Nicht halb falsch oder kommt drauf an oder ungefähr in diese Richtung. Früher gab es Blei, Clichés und Buchdruck, fertig. Heute ist das anders. Wir haben einen Workflow und wir haben Color Management, Short run Color, wir haben profiliert und Computer-to-irgendwas, Tscheipeg, Epeäss und wie die fixen Kürzel alle heissen. Wir kennen neben ja/nein auch entweder/oder, und/oder und nein/aber. Und wenn mal ein Arbeitsablauf (Sie wissen: Workflow) eingespielt ist, man glaubt, Xpress und das Betriebssystem im Griff zu haben, dann kommen bestimmt irgendwelche sagenhaft kompetenten Berater, die es besser wissen. Sie haben die Nase voll im Wind und beziehen ihre Informationen von über dem Teich. Wer auf der Seybold war, der ist a priori schon mal ein Guru. Zur Drupa, zur Photokina, zur Cebit, da geht jedes Schwein hin. Technologien wurden nie geschaffen, weil ein Bedürfnis bestand, sie sind einfach logischer Fortschritt. Das ist auch in der Kommunikation so: Videotex, Satellitentelefon Iridium, WAP, UMTS, alles grossmundig angekündigte Kommunikationshöhenfeuer. Vieles davon ist über die Anzündwürfel nie hinweggekommen. Und jetzt kommt MMS – Multimedia Messaging Service. Niemand hat danach gerufen. Ob die Väter der Kids auch bereit sind, ein Mehr an Geld für die coolen Handys auszugeben? Manchmal ist der Markt sehr brutal und gestaltet zuweilen auch deren Anbieter neu.
Und was läuft in der grafischen Branche?
Seit Jahren ruft die Branche nach Standardisierung. Einen Standard gabs im Bleisatz, der Fotosatz brachte schon mehrere geschlossene Datenformate. Je weiter DTP-fortgeschritten, desto mehr Formate kannten wir. Auch hardwareseitig streiten sich die Hersteller um die Vorherrschaft. CD ist nicht gleich CD, und DVD schon gar nicht. Standardisierung im Zeitungsdruck? – Eine Vision. GX-Fonttechnologie? – Eine geniale Totgeburt. Tabellensatz? – Heute erste Ansätze, nachdem 1984 Pagemaker ausgerufen wurde.
Standardisierung bedeutet erst einmal Messen, Definieren und nochmals Messen – eine Frage der Angemessenheit. Um über 50 Variablen im Druckprozess zu kontrollieren, verliert man leicht den Überblick fürs Wesentliche. Das Problem liegt in vielen instabilen Einflussgrössen, sie sich selber dauernd wieder ändern. Bürodaten sind keine Druckdaten und Plakate sind nicht Multimedia.
Standardisierung ist in der industriellen Fertigung sehr erwünscht. Definierte Fertigungstoleranzen, mess- und belegbare Qualität schaffen viele Diskussionen und Preisnachlässe aus dem Weg. Standardisierung ist jedoch auch ein Kreativitätskiller. Experimentierfreude, Spezialeffekte und «Basteln» werden damit ausgeschlossen. Sagen wir es einmal etwas despektierlich: alles was, ausserhalb CMYK läuft, ist in der Druckbranche schon viel verlangt. Eine Silberprägung, Rubbelfarbe, nur schon Leuchtfarben oder ein spezielles Papier rufen nicht nach Standardisierung. Eine grosse Hürde wurde jetzt mit PDF geschaffen. Seit 10 Jahren schon in den Startlöchern, hat sich PDF neulich zum allumfassenden ISO-Norm-Druckformat gemausert. Wann jedoch jeder Plotter, das hinterste Tabellenkalkulationsprogramm, die letzte Bürosoftware PDF erzeugen und verstehen, das wage ich nicht zu prophezeien. Mir graut davor, dass für einige Kunden der «direkte Zugang» auf die Druckplatte die gesamte Druckvorstufe aushebeln wird. Von Typografie, von Bildqualität, von Auflösung, vom Überdrucken oder Aussparen brauchen wir dann nie mehr zu sprechen.
In der Druckerei klatscht man begeistert. Keine fehlenden Schriften mehr, keine Fremdfarben, tipptoppe Überfüllungen, nur noch ein Dateiformat, aus allen möglichen Programmen erzeugt. Das ist schon fast wie Gentechnologie: alles Fehlerhafte wird koupiert, und wir kennen nur noch strahlend reine Files. Daraus ergibt sich dann Crossmedia-Publishing.
PDF-Erzeuger aus dem Bereich der Nichtfachleute werden sich vermehrt über die Druckechnik wundern, denn ein einheitliches Format macht noch lange keine Drucksache. Es ist ein Schnittstellenproblem: Wer trägt welche Verantwortung, wer macht wann welche Qualitätskontrollen zwischen Kunde, Agentur/Grafiker, Druckvorstufe und CTP? Wer besitzt die Qualifikation und das technische Equipment dazu? Ein Kunde, der bisher nicht in der Lage war, druckgerechte Daten aufzubereiten, der wird es erst recht nicht schaffen, druckgerechte PDFs zu liefern. Ist ja auch nicht seine Aufgabe, Standard hin oder her. Die Druckereien sind bester Laune daran, das letzte Quäntchen Wissensvorsprung in der Druckvorstufe an die Kundschaft outzusourcen. Man verdient ja eh kein Geld mit Wissen, sondern mit Vervielfältigen.
Die Stunde naht
Einer weiss auf alle Probleme eine Antwort, der Berater. Er ist dringend auf Probleme angewiesen, die ihm sein tägliches Brot bescheren. Er handelt aus der Theorie heraus, kennt die Lösung aus dem Versuch. Ein Berater zieht mit den Schlagworten ICC, profiliert, kalibriert, zertifiziert und optimiert ins Feld. Der Ärmste, sein letztes Stündchen naht. PDF, ich garantiere es, wird eine neue Klasse Arbeitsloser schaffen, die Beratlosen. Wir stehen ja erst am Anfang. In fünf Jahren werden wir verträumt auf heute zurücklächeln, kein Mensch wird sich dann für irgend eine Technologie interessieren. Ein Formatkonverter wird dann alles auf Knopfdruck ausspucken. Genau so wie die Visitenkartenautomaten im Shopping Center. Scotty, beam me up!