Cover_19-6_gruen_low

Schweizer Fachzeitschrift
für Publishing und Digitaldruck


Heft-Archiv >> 2009 >> Publisher 6-09 >> Das Letzte >> Was n�tzts?

Was n�tzts?

Im Mittelpunkt des eigenen Universums sind Urheber, ­Autoren und Verleger oft im Gravitationsfeld gefangen. Nicht immer gelingt es, Nutzwert zu generieren.

RALF TURTSCHI Die bis heute erfolgreiche Prosperität der allerdings noch relativ jungen Schweiz gründet auf dem Prinzip, die Fortpflanzungsrate höher zu halten als die Sterberate. Dies geschieht natürlich nicht einfach so von selbst, es gehören schon einige Fertigkeiten dazu. Wenn zum Beispiel Vater Tell nicht den Apfel, sondern den Walterli getroffen hätte, dann gäbe es heute wahrscheinlich das süddeutsche Bundesland Habsburg-Rheingau. Da aber Tell über eine schillernde Zielsicherheit verfügte, durfte er sein Testosteron an eine Nachkommenschaft vererben, die sich bis heute mit der besten Armee der Welt gegen fremde Vögte zur Wehr setzt. Heute sind dies Minarette, Burkas, CO2-Abgaben, alternative Energien und die uns umzingelnde EU. Wir schies­sen natürlich nicht mehr mit der Armbrust auf all diese Feinde, und schon gar nicht gegen einen Apple. Moderne Fertigkeiten im täglichen Überlebenskampf haben mit Werten, die geschaffen werden, zu tun. Nun ist es leider so, dass nicht alle Mehrwerte für alle Leute gleichwertig sind. Ein panzerverstärkter SUV stellt für die Umwelt oder das Kleinkind nicht den gleichen Wert dar wie für den kaschmirbemantelten Investmentbanker. Die Schweinegrippe hat für die Infizierten ­einen anderen Wert als für den tief betroffenen Daniel Vasella.

Auch wir Publisher verdienen unser Geld mit Mehrwert. Wir verschaffen und verbreiten Informationen auf Materialien. Information ist wichtig, denn ohne Information geht gar nichts. Man stelle sich einmal vor, die Züge würden statt 30 Sekunden eine Minute zu spät ankommen, skandalös. Information ist das Leben.

Auch Material ist wichtig. Ich erinnere an einlagige WC-Papiere in touristischen Entwicklungsländern.

Die Schwierigkeit besteht darin, zu erkennen, was genau denn Mehrwert schafft. Ist es das Material, ist es der Inhalt, oder sind es am Ende die Gestaltung und die Drucktechnik? Die Leser sollen einen Nutzen aus der Information ziehen. Sie sollen motiviert, erhellt oder wenigstens unterhalten werden. Oder alles zusammen. Bei einer Verpackung, einer Beschriftung oder einer Gebrauchs­anleitung ist das nicht dasselbe, auch wenn man manchmal das Gefühl hat, Gebrauchsanleitungen führen eher zu Lachanfällen denn zu Erkenntnissen.

Einen hohen Nutzen hat folgender Tipp: Wenn Harz vom Weihnachtsbaum an den Händen klebt, ist die Entfernung mit Seife unmöglich. Reiben Sie die Hände erst mit Butter ein, dann lässt sich das Harz mit Seife leicht entfernen. Der Nutzen ist fast nicht zu überbieten und das Erneuern des Publisher-Abonnements hat sich damit bereits schon amortisiert. Lesernutzen ist das A und O ­jedes Mediums.

Allgemeine Informationsblätter haben grosse Streuverluste, denn nicht jeder «Blick»­Leser ist lüstern und nicht jede Annabelle ein Modepüppchen. Deshalb gibt es keine echten Frauenzeitschriften, nur Modezeitschriften, die Frauen auf Barbie, Kochen, Kreuzworträtsel und Haarentfernung reduzieren. Na ja, ich tue ihnen unrecht, manchmal ist da auch noch eine rührende Lovestory drin. Bei den Zeitungen tut sich ebenfalls viel in Sachen Relevanz. Im «Tages-Anzeiger» vom 21. November waren über dem pointierten Titel «Mitteilungen» auf mehr als eineinhalb Seiten die Veranstaltungen der Landeskirchen abgedruckt. Gegliedert in städtisch und regional, evangelisch und katholisch, 5-spaltig, Blocksatz, Endlossatz, in einer zu eng gesetzten 6-Punkt-Schrift zu einer wunderbaren Textplantage aufgemacht. Speziell für die mehrheitlich älteren Leute der ungefähr 2000 Kirchgänger von hohem Nutzwert, der Rest der 487 000 Leser erfreute sich an der Grauwirkung – mich grauts. Der letzte Untertitel heisst «Andere Kirchen: keine Angaben». Oh, Gott, oh, Gott! Für die Nichtkirchgänger und Kopftuchträger bleibt der Gang ins Fernsehprogramm zu Mike ­Shiva: «Isch truurig, aber was wotsch.» Dabei wird der Zeitung schon ein Programmheft beigelegt, Teletext und Internet halten einen ebenfalls bei der Stange und moderne TV-Geräte senden die Vorschau gleich mit, anwählbar nach Sparten, Sendern und Zeiten.

Die Medien bedienen sich heute mit wenig Eigenleistung aus dem globalen Informations(s)pott. Man vernimmt in der Tagesschau am Abend, was tagsüber passierte, in der Presse liest man, was die Tagesschau gemeldet hat, und im Radio, was in der Presse steht. Zitatitis pur. Egal, ob es sich um den abgebrochenen Fingernagel von Michelle Obama handelt oder ob Roger Federers Zwillinge geimpft wurden oder nicht. Wehe allen, die im Auto unterwegs sind. Von Scuol nach Rapperswil hört man mindestens siebenmal die haargenau gleichen «Nachrichten», egal aus welchem Sender. Das ist also Nutzwert. Im gleichen Atemzug wird dann über Leserschwund geklagt und über das zeitungslose, weil papierlose Büro orakelt.

Dazu fällt mir noch eine andere Geschichte ein: Seit es ticketloses Buchen im Internet gibt, drucke ich «Flugtickets» aus, mindestens drei Seiten, weil die allgemeinen Geschäftsbedingungen oder Warnungen gleich noch angehängt sind. Das gleiche Spiel bei ­Kino oder Musicals, ein Billett hat heute den Umfang von drei Seiten. Bei politischen Abstimmungen oder Wahlen liegen zwei Flyer bei (einer für die Gemeinde, ein zweiter für die kantonale Abstimmung), die erklären, wie es im Internet funktioniert. Der Weg zum papierlosen Büro ist länger, als wir denken.